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Netto-Null ist nicht Null

RIO DE JANEIRO/BERLIN – Die steigende Zahl an Zusicherungen, „Netto-Null-Emissionen” zu erreichen, mag den Anschein erwecken, als würde die Welt die Klimakrise endlich ernst nehmen. Unter den großen Treibhausgasemittenten haben sowohl die Vereinigten Staaten als auch die Europäische Union versprochen, dieses Ziel bis 2050 zu schaffen, während China beabsichtigt, vor 2060 CO2-neutral zu werden. Selbst die Ölgiganten Shell und BP planen, bis zur Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen vorzuweisen.  

Die großen Technologiekonzerne scheinen noch ambitionierter: Amazon hat sich verpflichtet, bis 2040 das Ziel der Netto-Null-CO2-Emissionen zu erreichen. Microsoft hat zugesichert, bis 2030 „CO2-negativ” zu sein und bis 2050 strebt das Unternehmen an, das gesamte, seit der Firmengründung ausgestoßene CO2 aus der Atmosphäre entfernt zu haben. Google behauptet, seit 2007 CO2-Neutralität erreicht zu haben und strebt an, bis 2030 „CO2-frei“ zu sein. Tatsächlich kommen Netto-Null-Zusagen aus allen Bereichen der Wirtschaft, darunter auch aus der Fleisch- und Milchprodukteindustrie, der Luftfahrt, dem Bergbau, dem Finanzwesen und dem Einzelhandel.

In Wirklichkeit laufen diese scheinbar ehrgeizigen Ziele jedoch auf Greenwashing und gefährliche Ablenkungsmanöver hinaus, die die Umsetzung echter Klimalösungen verzögern und verhindern werden. Denn: Netto-Null ist eben nicht wirklich Null.

Zunächst einmal ist das Jahr 2050 noch fast drei Jahrzehnte entfernt. Langfristige Netto-Null-Zusagen ermöglichen es Regierungen und Unternehmen, zum jetzigen Zeitpunkt drastische Emissionssenkungen zu vermeiden. Vor allem aus der Perspektive der Klimagerechtigkeit ist aber Mitte des Jahrhunderts viel zu spät: Die wohlhabenden Industrieländer des globalen Nordens tragen aufgrund ihrer Emissionen in der Vergangenheit und ihres Wohlstands der Gegenwart eine Verantwortung für eine deutlich schnellere Dekarbonisierung.

Hinzu kommt, dass viele Pläne im Bereich Netto-Null-Emissionen nicht durch entsprechende kurz- und mittelfristige und  Emissionsminderungsziele - beispielsweise für das Jahr 2025 - untermauert werden. Stattdessen beruhen die meisten der kürzlich aktualisierten oder überprüften Beiträge der Länder im Rahmen des Pariser Klimaabkommens von 2015 auf einem Zeitrahmen bis 2030. Das stellt eine Missachtung des fünfjährigen Überprüfungszyklus dar, der das Herzstücks des Pariser Abkommens bildet.

Noch schlimmer ist, dass der Begriff „netto“ in den Klimazusagen ausdrückt, dass die Emissionen nicht tatsächlich auf Null sinken werden. Vielmehr werden sie wohl – in einem unklaren und umstrittenen Ausmaß – mit aus der Atmosphäre entferntem CO2 gegengerechnet werden.

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Viele dieser Netto-Null-Programme verlassen sich nämlich übermäßig auf die Entfernung und Speicherung des atmosphärischen COdurch natürliche Ökosysteme. Dies hat den derzeitigen Hype um so genannte naturbasierte Lösungen ausgelöst. Zwar ist die sorgfältige Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung der Klima- und Biodiversitätskrise, sie darf jedoch nicht dazu dienen, die Lebensdauer umweltverschmutzender Industrien zu verlängern. Zu diesen naturbasierten Lösungen gehören auch problematische Vorschläge, im Rahmen derer die industrielle Landwirtschaft in eine großmaßstäbliche Emissionsminderungsmöglichkeit verwandelt wird, indem sie an einen globalen Markt der CO2-Speicherung in landwirtschaftlichen und anderen Böden gekoppelt wird.

Die Pläne für Netto-Null-Emissionen stützen sich oftmals auch auf spekulative technologische Lösungen zur Entfernung von CO2 aus der Atmosphäre. Geoengineering-Technologien im Klimabereich wie etwa Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (BECCS) oder direkte Luftabscheidung (DAC) sind hoch riskant und unerprobt – insbesondere in klimarelevanten Größenordnungen - und könnten potenziell verheerende Folgen für Menschen und Ökosysteme nach sich ziehen. In jedem Fall bergen „Lösungen“ wie BECCS und DAC die Gefahr, dass Produktion und Verbrennung fossiler Brennstoffe noch mehrere Jahrzehnte fortgesetzt werden.

Stattdessen müssen wirkliche Klimalösungen in den Blickpunkt rücken, die derzeit auf hochrangig besetzten zwischenstaatlichen Konferenzen nicht zur Sprache kommen. Im Mittelpunkt der Debatte sollte eine umfassende und längst überfällige Umgestaltung unseres ausbeuterischen und zerstörerischen Wirtschaftssystems stehen. Um den weltweiten Ausstoß von Treibhausgasen wirklich auf Null zu senken, ist es erforderlich,   die vielfältigen globalen und historischen Ungerechtigkeiten zu beheben, die die Klimakrise verursacht haben und sie auch weiterhin prägen.

Insbesondere müssen die Rechte, das Leben und die Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerungen und der lokalen Gemeinschaften im Mittelpunkt jeder Klimalösung stehen. Das bedeutet, diesen Gruppen zuzuhören und ihre Ansätze und Vorschläge ernst zu nehmen. Die Stärkung und Sicherung ihrer Landrechte ist einer der wirksamsten Wege, um Ökosysteme, biologische Vielfalt und das Klima zu schützen.

Außerdem gilt es unaufschiebbar, fossile Brennstoffe jetzt im Boden zu belassen. Es darf keine weitere Erschließung dieser Ressourcen geben, und die bestehende Infrastruktur für fossile Brennstoffe muss so rasch wie möglich abgebaut werden. Dies auf Grundlage eines gerechten Übergangs für Arbeitskräfte und Gemeinschaften, deren Existenz von der Förderung fossiler Brennstoffen abhängig ist.

Eine weitere Priorität besteht in der Abkehr von der industriellen Landwirtschaft. Die übermäßig intensive, zerstörende Lebensmittelproduktion hat Böden und Ökosysteme auf der Erde erschöpft und verursacht enorme Mengen an Treibhausgasemissionen, obwohl sie nur einen Bruchteil der Weltbevölkerung ernährt. Sie ist eine der Hauptursachen für die Entwaldung, und die daraus resultierende Zerstörung ökologischer Barrieren und Puffer hat wahrscheinlich zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie beigetragen.

Im Gegensatz dazu bietet die Agrarökologie neue Möglichkeiten für einen sozial-ökologischen Wandel und kann dazu beitragen, die Klimakrise auf sichere Art und Weise zu bewältigen. Überdies kann dieser Ansatz auch hilfreich dabei sein, die Lebensmittel- und Ernährungssicherheit sowie Ernährungssouveränität zu gewährleisten und die biologische Vielfalt zu erhalten.

Der Überkonsum des globalen Nordens und die profitorientierte Ausbeutung der Ressourcen der Welt müssen ein Ende haben. Stattdessen gilt es, unsere wirtschaftlichen Aktivitäten mit den Zielen einer weltweiten sozialen und ökologischen Gerechtigkeit in Einklang bringen und so das Wohlergehen und die Fürsorge in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zum Schutz unserer gemeinsamen Umwelt stellen.

Die jüngsten Zusagen im Bereich Netto-Null-Emissionen mögen ehrgeizig erscheinen, aber tatsächlich fördern sie nur eine neue Reihe falscher Lösungen unter allerlei grün gefärbten Deckmänteln. Regierungen und Unternehmen müssen ihre Greenwashing-Strategien ein für alle Mal aufgeben. In diesem entscheidenden Moment ist echter politischer Wille erforderlich, um einen echten Wandel herbeizuführen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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