jk859.jpg Jon Krause

Die neuen Akteure im „Großen Spiel“

NEU-DELHI: Südasien wird gegenwärtig von zwei „großen Spielen“ heimgesucht. Im Westen fordern Afghanistan und die „islamistischen Dschihadis“ (Henry Kissinger) die internationale Ordnung heraus. Und im Osten stehen nun chinesische Truppen in großer Zahl auf von Pakistan gehaltenem Gebiet hoch oben im Karakorumgebirge Kaschmirs, in der malerischen Region Gilgit-Baltistan unweit des Gletscherschlachtfeldes von Siachen, wo Indien und Pakistan einander gegenüberstehen.

Laut Senge Hasan Sering aus Skardu, dem Direktor des Gilgit Baltistan National Congress, könnte die Anzahl der sich dort aufhaltenden Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) „bei über 11.000 liegen“, da zusätzlich „Mannschaften des Pionierkorps der VBA“ dort eingesetzt seien. China investiert hier gegenwärtig „Milliarden von Dollar in Megaprojekte wie Schnellstraßen, Tunnel und Öl- und Gasleitungen“, und dies, so Sering, geschehe „sicherlich nicht aus überfließender Nächstenliebe“.

Die Chinesen sagen, ein Teil ihrer Truppen sei in Pakistan, weil dort etwas anderes überfließe, von dem es in diesem Teil Kaschmirs und im übrigen Pakistan eine Menge gibt: Die schweren Monsunniederschläge dieses Jahres haben in der Gegend ein Chaos angerichtet und Straßenverbindungen unterbrochen, Brücken weggespült und über eine Million Menschen in diesen Bergen heimatlos gemacht – ohne „Unterkunft, Ackerland, bewegliches Vermögen“ oder sogar „Friedhöfe“. Dies alles zusätzlich zu den vielen tausenden in der Region Hunza, die im Januar aufgrund eines Wolkenbruchs, der mehrere Dörfer vernichtete und einen hochgradig instabilen künstlichen See schuf, alles verloren haben.

Rudyard Kiplings altes „großes Spiel“ hat nun neue Mitspieler. Statt eines expansionistischen russischen Reiches, das sich dem britischen Empire entgegenstellt, ist es jetzt ein land-, wasser- und rohstoffhungriges China, das seine Muskeln spielen lässt, in die Gebirgsfesten des Himalaya eindringt und Indien direkt herausfordert.

Chinas Eindringen bestätigt das uralte strategische Axiom, wonach „Geografie ... die wahre Determinante der Geschichte“ und damit auch der Außen- und Sicherheitspolitik ist. Von Robert Kaplan stammt die klugen Beobachtung, „Indiens Geografie ist die Geschichte von Invasionen aus dem Nordwesten“ und „Indiens strategische Herausforderungen liegen noch immer in dieser Tatsache begründet“ – was der Grund ist, warum Afghanistan aus indischer Sicht mit der Geschichte des Subkontinents und damit mit unserer Zukunft verknüpft ist.

Es ist zugleich der Grund, warum eine „organische Verbindung Indiens nach Zentralasien besteht“, wobei der Schlüssel zu dieser Verbindung im Himalaya liegt, dem aktuellen Fokus indisch-chinesischer Rivalität. Glücklicherweise ist diese Rivalität, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt, deutlich weniger emotionsbestimmt als die indisch-pakistanischen Beziehungen, da sie nicht auf historischen Beschwerden beruht.

SUMMER SALE: Save 40% on all new Digital or Digital Plus subscriptions
PS_Sales_Summer_1333x1000_V1

SUMMER SALE: Save 40% on all new Digital or Digital Plus subscriptions

Subscribe now to gain greater access to Project Syndicate – including every commentary and our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – starting at just $49.99

Subscribe Now

Der Antrieb Chinas besteht darin, aus den Grenzen der eigenen Geschichte und damit der eigenen Geografie auszubrechen. Ein durchsetzungsstarkes und relativ stabiles China, so scheint es, muss expandieren, um nicht durch den in seinem Innern aufgestauten Druck zerrissen zu werden. Ein starkes und stabiles Indien andererseits wird immer eine Macht des Status quo sein.

Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Indien und China ist vor diesem Hintergrund zu bewerten. Unstrittig ist, dass mehrere tausend Angehörige der VBA derzeit im Khunjerab-Pass an der Grenze nach Xinjiang stationiert sind, um den Karakoram Highway zu schützen, den die VBA-Soldaten nun an mehreren Stellen reparieren. Die Straße ist schließlich ein lebenswichtiges Verbindungsstück in Chinas Streben nach direktem Zugang zum Arabischen Meer. Doch ist dies zugleich indisches Gebiet, und hier genau liegt das Problem, denn die Region ist nun ein Opfer schleichender chinesischer Raffgier, wobei Pakistan den bereitwilligen Komplizen gibt.

Trotz Indiens historisch belegtem territorialen Anspruch auf die Region bezeichnet China die Gegend als „umstritten“, eine Beschreibung, die es nun auf den gesamten indischen Staat Jammu und Kaschmir auszuweiten begonnen hat. Diese Art verbaler Trickserei zum Verbergen eines strategischen Ziels ist nicht neu. Tatsächlich wurde vor einigen Jahren ein geplanter Besuch des VBA-Kommandeurs der Militärregion Lanzhou im indischen Ladakh mit der Begründung abgesagt, dass Pakistan dagegen protestiert habe – was implizierte, dass Pakistan einen legitimen Anspruch auf das Gebiet habe.

Es wäre ein Fehler, anzunehmen, die enorme Ausweitung des Handels zwischen Indien und China auf gegenwärtig mehr als 60 Milliarden Dollar jährlich (damit ist China nun Indiens größter Handelspartner) müsse automatisch zu besseren bilateralen Beziehungen führen. Parallel zur Ausweitung des Handels versucht China, Indien mittels seiner so genannten „String of Pearls“-Strategie innerhalb stark verkürzter Land- und Seegrenzen einzuschnüren.

Dieser Versuch, Indien von See her durch strategisch positionierte Marinebasen von Hainan im Osten bis hin nach Gwadar im Westen und an Land durch Unterstützung unbegründeter pakistanischer Ansprüche, die Indiens territoriale Integrität untergraben, einzukreisen, führt das „große Spiel“ auf eine neue und gefährlichere Ebene. Tatsächlich stellt die Umklammerung über Afghanistan und Gilgit-Baltistan Indien vor die schwerste staatspolitische Herausforderung seit der Unabhängigkeit.

Mehr noch: Der Kampf auf dem Dach der Welt könnte sehr wohl darüber entscheiden, ob dies ein „asiatischen Jahrhundert“ oder ein „chinesisches Jahrhundert“ wird.

https://prosyn.org/cIY78tKde