argentina oil shale JUAN MABROMATA/AFP/Getty Images

Argentinien übernimmt beim Thema Klimaschutz keine Führungsrolle

NEUQUÉN – Der argentinische Präsident Mauricio Macri behauptet, die Erschließung der Öl- und Gasschieferreserven seines Landes – der zweitgrößten weltweit – sei nicht nur für die wirtschaftliche Erholung ausschlaggebend, sondern auch, um einen Brennstoff als „Brücke“ für die Zeit des Übergangs hin zu einem klimafreundlicheren Energiesystem zu gewinnen. Die mittlerweile offensichtliche Realität präsentiert sich allerdings nicht annähernd so rosig.

Unter argentinischer Führung unterzeichneten die Energieminister der G20 diesen Sommer ein Kommuniqué, in dem die Rolle von Erdgas bei der „Unterstützung des Übergangs zu emissionsärmeren Energiesystemen“ mit „der Möglichkeit einer substanziellen Ausweitung in den kommenden Jahrzehnten“ hervorgehoben wird. Überdies hat die Regierung Macri einen Plan erstellt, um jährlich 12 Milliarden Dollar an Investitionen in fossile Brennstoffe anzulocken, wobei prognostiziert wird, dass die Einnahmen aus Öl- und Gasexporten bis 2027 jene aus der Landwirtschaft –Argentiniens derzeit führendem Exportsektor – übersteigen werden.

Argentinien verfügt in der Tat über gewaltige noch zu erschließende Reserven: nämlich die in der Schieferformation Vaca Muerta konzentrierten Vorkommen von schätzungsweise 19,9 Milliarden Barrel Rohöl und 583 Billionen Kubikfuß an Erdgas. Allerdings ist die Vorstellung, dass die Nutzung dieser Ressourcen einen ökologischen Vorteil bieten würde, völlig illusorisch. Die Gewinnung der argentinischen Schieferressourcen würde nicht nur gefährliches und teures hydraulisches Fracturing (Fracking) erfordern, sondern auch etwa 50 Milliarden Tonnen an Kohlendioxidemissionen verursachen.

Laut Forschungsergebnissen von Oil Change International würde man mit der vollständigen Ausbeutung der argentinischen Schieferreserven bis zu 15 Prozent des gesamten weltweiten CO2-Budgets verbrauchen, das zur Begrenzung der globalen Erwärmung auf weniger als 1,5 Grad Celsius über vorindustriellem Niveau  – wie im Pariser Klimaabkommen festgelegt - vorgesehen ist.  Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte empfiehlt der argentinischen Regierung, die Gewinnung unkonventioneller Kohlenwasserstoffe noch einmal zu „überdenken“.  

Doch falls es Argentinien gelingt, ausreichend Investitionen für den Aufbau jener Infrastruktur aufzutreiben, die für einen rentablen Betrieb in Vaca Muerta notwendig ist  - Pipelines, Eisenbahnlinien, Kieselerde-Abbau und Deponien zur Abfallentsorgung – könnte das Land effektiv zur vollständigen Ausschöpfung der Lagerstätten verpflichtet sein. Dieses Szenario erscheint zunehmend wahrscheinlich, wenn man sich das Engagement bedeutender internationaler Ölkonzerne vor Augen hält – darunter BP (hält 50 Prozent an der Pan American Energy Group, dem zweitgrößten Rohölproduzenten Argentiniens), Total, Shell, Wintershall, Equinor, ExxonMobil, Chevron, CNOOC, Dow und Petronas.

Leiden wird allerdings nicht nur das Klima. Bereits jetzt führen die ökonomischen Aspekte der argentinischen Jagd auf Gas zu massiven Transfers von privaten Haushalten, Unternehmen und dem Staat hin zu Erdöl- und Erdgaskonzernen. Entsprechend ihrer G20-Verpflichtungen hat die argentinische Regierung die Subventionen für private Gas- und Ölheizungskosten gekürzt. Gleichzeitig erhöhte die Macri-Administration die (dollarisierten) Gaspreise. 

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Berücksichtigt man dazu noch den drastisch abwertenden Peso (der heuer über 50 Prozent gegenüber dem US-Dollar einbüßte), belief sich der Anstieg der Gaspreise für private Haushalte und Unternehmen in den letzten 24 Monaten auf durchschnittlich 1.300 Prozent. Wenig überraschend können sich viele Unternehmen und Haushalte ihre Energiekosten nicht mehr leisten.

Diese Preisanstiege richteten derartigen Schaden an, dass sich die gesamte Opposition zusammentat und um ein Gesetz zur Senkung der Preise auf das Niveau von November 2017 bemühte. Macri legte im Mai sein Veto gegen dieses Gesetz ein und tauschte anschließend seinen Energieminister aus.

Während die Haushalte und Unternehmen leiden, profitieren die Öl- und Gaskonzerne weiterhin. Tatsächlich erhalten diejenigen, die diese Schiefervorkommen ausbeuten wollen, neue attraktive Subventionen und profitieren daneben von einer Reihe weiterer Vorteile: nämlich einer Preisgarantie durch Plan Gas für unkonventionelles Gas, von verringerten Gebühren der Regionalregierung je gewonnener Gaseinheit und von einer Vereinbarung mit den wichtigsten Gewerkschaften, im Rahmen derer die Arbeitskosten gesenkt werden.

Diese großzügigen Arrangements ermöglichen es den Erdgas fördernden Unternehmen, Gewinne zu machen, ohne den versprochenen wirtschaftlichen Nutzen zu bieten. Forschungsergebnissen der argentinischen Allianz für Sozioökologie und Energiegerechtigkeit zufolge erzielten die im Jahr 2016 in Vaca Muerta tätigen Öl- und Gaskonzerne höhere Erträge, obwohl sie in diesem Jahr weniger investierten als 2015 und 3.000 Arbeitsplätze weniger zur Verfügung stellten.

Jenseits der arbeitsrechtlichen Gesetzesübertretungen aufgrund der Vereinbarungen mit den Gewerkschaften verletzt die Schiefergasförderung auch die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen. So haben beispielsweise indigene Mapuche-Gemeinden gegen Bohrungen auf ihrem Territorium protestiert, die ohne ihre vorherige Einwilligung erfolgten. Hinzu kommt: obwohl über 60 Stadtgemeinden lokale Vorschriften über ein Verbot der Bohrungen erließen, haben Gerichte mehrere dieser Maßnahmen für verfassungswidrig erklärt, weil damit kommunale Befugnisse überschritten worden seien – ein Schritt, der auch die lokale Demokratie untergräbt.  

Argentiniens Megaprojekt zur Schieferförderung untergräbt also die Bemühungen im Kampf gegen den Klimawandel, bedroht die lokale Demokratie sowie auch die Rechte der indigenen Bevölkerung und wird obendrein nicht den von den Befürwortern versprochenen wirtschaftlichen Nutzen bringen. Inzwischen hat die Regierung Macri, die in dieser Woche den jährlichen G20-Gipfel ausrichtet, die Foren des Gremiums genutzt, um Erdgas als nachhaltige Energie-Alternative darzustellen. Klimaführerschaft sieht anders aus.

Doch im Hinblick auf die Ambitionen im Bereich Schiefergas steht Argentinien nicht allein da. G20-Regierungen von China bis Großbritannien entwickeln derzeit umfassende industrielle Strategien, die auf die Förderung von Schiefergas abzielen. Die Geschichte von Vaca Muerta sollte eine Warnung für diese und andere Länder sein, die Schiefergas als Mittel zur Stärkung ihrer Ökonomien und zur Förderung einer Energiewende in Richtung kohlenstoffarmer Energieträger in Betracht ziehen.

Anstatt Schieferreserven auszubeuten, muss die Welt neue Projekte rund um fossile Brennstoffe stoppen, bestehende Projekte auslaufen lassen und ambitionierte Strategien für Investitionen in saubere Energie umsetzen, die darauf abzielen, menschenwürdige Arbeitsplätze zu schaffen und das Recht von Bevölkerungsgruppen zu respektieren, die Ressourcenförderung auf ihrem Territorium zu kontrollieren. Nur mit einem derartigen Ansatz und dessen Förderung könnte Argentinien in glaubwürdiger Weise behaupten, Klimaführerschaft an den Tag zu legen. 

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/lPiJPRbde