tb2368.jpg Tim Brinton

Putins Breschnew-Syndrom

PARIS – Es war eine ausgemachte Sache, wer den Sieg bei den russischen Parlamentswahlen davontragen würde: Wladimir Putins Partei Einiges Russland. Ebenso besteht kein Zweifel, dass Putin auch die für März 2012 anberaumten Präsidentenwahlen gewinnen wird. Aber der öffentliche Enthusiasmus, der Putins Rolle über ein Jahrzehnt getragen hat, schwindet. Das zeigt sich an den schwachen Ergebnissen seiner Partei Einiges Russland bei den soeben abgehaltenen Wahlen zur Duma.

Im Gegensatz zu dem von der Staatsschuldenkrise geplagten Europa und den Vereinigten Staaten, deren politische Spitzen sich über die Bewältigung des Defizits streiten, erscheint Russland wie eine Oase der Stabilität und Kontinuität. Aber diese Kontinuität erinnert mehr an zastoj, also die Stagnation der Breschnew-Ära.

Ein durchschnittliches jährliches BIP-Wachstum von 7 Prozent während Putins erster Präsidentschaft von 2000 bis 2008 ermöglichte es Russland, seine Schulden zurückzuzahlen, beinahe 600 Milliarden Dollar an Währungsreserven anzuhäufen und sich in den Kreis der führenden Schwellenländer einzuordnen. Ein Jahrzehnt nach der Krise 1998, die Russland in die Knie gezwungen hatte, rühmte sich die russische Führung, dass das Land die Finanzkrise des Jahres 2008 überstehen könnte.

Angesichts der wirtschaftlichen Fundamentaldaten Russlands erscheint Putins dahinschmelzende Beliebtheit vielleicht überraschend. Mit einem vom Internationalen Währungsfonds prognostizierten Wachstum von 4 Prozent für 2011 und die darauf folgenden Jahre, liegt Russland zwar um einiges hinter China und Indien, aber noch weit vor den durchschnittlichen Wachstumsraten in den reichen G-7-Ländern. Außerdem wird der russische Haushalt ausgeglichen bleiben, solange sich der Ölpreis über 110 Dollar pro Fass befindet.

Auch langfristige Trends haben sich verbessert. Seit der Jahrtausendwende (als vier Wiegen sieben Särgen gegenüberstanden) wurde der rapide Bevölkerungsrückgang zum Stillstand gebracht. Mit großzügigen staatlichen Prämien für ein drittes Kind hob man die Fruchtbarkeitsrate von ihrem Niedrigststand von 1,16 Kinder pro Frau im Jahr 1999 auf 1,58 im Jahr 2010 an. Dieser Wert liegt zwar immer noch weit unter der Ersatzrate von 2,1, aber eine höhere Fruchtbarkeit in Kombination mit erfolgreichen Maßnahmen zur Senkung der Sterblichkeit bei Männern hat den Bevölkerungsschwund gebremst.

Im Grunde jedoch bleibt Russland ein „Rentenstaat“, also ein Staat, der seine Einnahmen primär nicht aus Steuern, sondern aus Renten -  in diesem Fall aus Öl und Gas – bezieht und dadurch die Forderungen nach politischer Vertretung in Schach hält. Vielmehr ist der Staat das Ziel politischer Unternehmer, die danach streben, ihn einzunehmen, um von den eingenommenen Renten zu profitieren.

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Russland weist einen Großteil der üblichen Merkmale von Rentenstaaten auf: Autokratie, schwache politische und rechtliche Institutionen, willkürliche Regierungsführung, Mangel an Rechtsstaatlichkeit, wenig Transparenz, Einschränkungen der Meinungsfreiheit sowie weit verbreitete Korruption, Vetternwirtschaft und Nepotismus. Ebenfalls häufig in Rentenstaaten sind kurzfristige Investitionshorizonte, Anfälligkeit gegenüber volatilen Rohstoffpreisen – Euphorie bei Anstiegen, Krise bei Preisstürzen – und ein unterentwickelter und nicht wettbewerbsfähiger Produktionssektor.  

Das Russland von heute ist ein gigantisches Rohstofflager und seine Wirtschaft ist stark von diesen Rohstoffen abhängig -  in den Bereichen Bergbau und Ölförderung. Russland ist der weltgrößte Öl- und Gasexporteur und sitzt auf über 25 Prozent aller nachgewiesenen Gasreserven. Diese Rohstoffe sorgen für mehr als zwei Drittel aller Exporteinnahmen des Landes und sind daher die primäre Einnahmequelle des Staates.

Die Auswirkungen auf die Regierungsführung sind allzu vorhersehbar. Im „Korruptionswahrnehmungsindex“ 2011 von Transparency International nimmt Russland den 143. Platz unter 182 Ländern ein und liegt damit gleichauf mit Nigeria. Im „Korruptionskontrollindex“, einem weltweiten Indikator der Weltbank für Regierungsführung, liegt Russland unter 210 Ländern auf Rang 182. Hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit gibt es nur minimale Verbesserungen und in diesem Index rangiert Russland auf Platz 165.

Unterdessen zerbröckelt die Infrastruktur sogar in der lebenswichtigen Grundstoffindustrie, während der Produktionssektor international nicht wettbewerbsfähig ist. Die russische Rüstungsindustrie hat ihre führende Position bei ihren einst wichtigsten Kunden Indien und China eingebüßt. Trotz des Hypes um Nanotechnologie und ein „russisches Silicon Valley“ in Skolkowo betragen die Ausgaben für Fampamp;E nur ein mageres Fünfzehntel des US-amerikanischen Niveaus und ein Viertel der Ausgaben Chinas. Als Anteil am BIP haben sich die Fampamp;E-Ausgaben seit Anfang der 1990er Jahre halbiert und belaufen sich momentan auf lediglich 1 Prozent des BIP. Wissenschaftler und Forscher, einst der ganze Stolz der Sowjetunion, haben sich vielfach einträglicheren beruflichen Chancen im In- und Ausland gewidmet.

Tatsächlich sind russische Universitäten aus weltweiten Ranglisten fast gänzlich verschwunden: Nur mehr zwei scheinen in der Top-500-Liste der Universität Schanghai und am untersten Ende der 400 von The Times Higher Education Supplement gelisteten Universitäten noch auf. Auch im globalen Wettbewerbsfähigkeitsindex des Weltwirtschaftsforums rangiert Russland nur an 63. Stelle und liegt damit weit hinter allen Industrieländern und sogar hinter manchen Entwicklungsländern. Das Gleiche gilt auch für Innovationskapazität und Technologie.  

Doch es gibt ein paar Hoffnungsschimmer. Russland hinkt der entwickelten Welt im Bereich Internet-Nutzung nicht mehr hinterher. Das Internet bietet Raum für weitgehend freie Meinungsäußerung und ermöglicht es den Usern, die offiziellen – überwiegend Putin-freundlich eingestellten – Nachrichtenmedien zu umgehen. Überdies hat sich Russland nach langen Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation über den russischen Beitritt geeinigt, wodurch alle relevanten Bestimmungen hinsichtlich Transparenz und Handelsregeln nun auch einzuhalten sind. 

Eine umfassende Transformation der russischen Wirtschaft bleibt jedoch zweifelhaft. Einer der führenden unabhängigen Ökonomen Russlands und Rektor der New Economic School in Moskau, Sergej Guriew, hielt im Jahr 2010 nüchtern fest, dass  

„sinnvolle Reformen höchst unwahrscheinlich sind – und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie den Interessen der herrschenden Eliten Russlands schaden. In jedem rohstoffreichen und undemokratischen Land haben die politische Klasse und die sie umgebenden Geschäftsinteressen wenig bis keinen Anreiz, stärkere Eigentumsrechte, Rechtsstaatlichkeit und Wettbewerb zu unterstützen. Tatsächlich würde ein derartiger Strukturwandel den Zugriff der Eliten auf politische und wirtschaftliche Macht schwächen. Der Status quo – unklare Regeln, willkürliche Entscheidungsfindung und ein Mangel an Rechenschaftspflicht – ermöglicht es Insidern, sich zu bereichern, vor allem, indem sie sich einen Anteil an den Einnahmen aus den Rohstoffexporten sichern.”

Wenn Russland heuer zu Weihnachten den 20. Jahrestag des Zusammenbruchs der Sowjetunion begeht, wird es viel zu feiern geben. Leider wird man hinsichtlich der Dinge, die sich nicht geändert haben, auch viel zu bereuen haben.

https://prosyn.org/uJAr4DWde