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Europas Regulierung im Tech-Bereich ist keine Wirtschaftspolitik

BRÜSSEL – „Wie haben Sie es geschafft, Big Tech zu bändigen?“, fragte US-Senatorin Elizabeth Warren anlässlich ihres jüngsten Besuchs im Europäischen Parlament. Inmitten einer Flut an Arbeitspapieren, Konferenzen und Workshops, die ein neues Zeitalter in der Rechtsdurchsetzung im Technologiebereich einläuten, kommt der „Brüssel-Effekt” wieder zum Vorschein.

Zwar ist es bemerkenswert, dass Europa in Rekordzeit wegweisende Gesetze zur Moderation von Online-Inhalten und zur Stärkung der Kartellrechtsdurchsetzung verabschiedet hat - ein demokratischer Meilenstein - aber was können diese Maßnahmen tatsächlich bewirken? Und welche Rolle werden sie in den wirtschaftspolitischen Programmen spielen, die der Wählerschaft bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 präsentiert werden?

Noch hat niemand formuliert, wie ein Erfolg des Flaggschiff-Regelwerks Gesetz über digitale Märkte (GDM) aussehen würde. Das Mantra von „Fairness und Bestreitbarkeit” hat zwar zahlreiche akademische Abhandlungen nach sich gezogen, die aber keine tatsächlichen Auswirkungen zeigten. „Ich wäre schon froh, wenn ich den Prozess richtig hinbekommen würde“, sagte mir ein hochrangiger Beamter der Wettbewerbsbehörde. Aber was ist das Endziel dieses „Prozesses”? Trotz aller Bemühungen der Europäischen Union, zur internationalen Digitalpolizei zu werden, bleibt die Dividende nebulös. Abgesehen von den überschwänglichen Ankündigungen der Politik, Big Tech zu „bändigen“, steht das GDM vor zumindest vier großen Hürden.

Erstens werden mit den Bestimmungen Kategorien des rückwärtsgewandten EU-Wettbewerbsrechts übernommen, die sich bereits als unwirksam erwiesen haben, da sie die zugrunde liegenden Geschäftsmodelle und Anreize nicht berücksichtigen. Das Problem mit Monopolen liegt tendenziell in der Rentenextraktion und deren demokratiefeindlichen Auswirkungen. In Europa blicken wir auf ein Jahrzehnt gescheiterter Fälle von Selbstbevorzugung zurück, die keine nennenswerten Veränderungen bewirkt haben, und die Ausgestaltung neuer Regeln im Sinne alter (gescheiterter) Kartellrechtsfälle wird die Bemühungen in die falsche Richtung lenken. Die Übernahme eng gefasster wettbewerbsrechtlicher Präzedenzfälle in das GDM wird wohl nur einen begrenzten Nutzen mit sich bringen.

Zweitens: Selbst wenn das GDM kleineren Unternehmen und neuen Marktteilnehmern einen gewissen Zugang zu vorher nicht zugänglichen vertikalen Strukturen verschaffen kann, wird mit dem Gesetz weder die grundlegende „Infrastruktur“ der Technologieplattformen verändert, noch die wirtschaftliche Macht der etablierten Unternehmen geschwächt. Aufschlussreich ist, dass selbst die in Europa als große Errungenschaft gepriesene Regulierung der Telekommunikation nur den Wettbewerb auf der Endkundenebene ermöglichte, da quasi-monopolistische Infrastrukturen intakt blieben. Und wie Daron Acemoglu vom MIT feststellt, bleibt im Fall von Regulierungsmaßnahmen, die Geschäftsmodelle und Infrastrukturen schützen, die Kontrolle über den Verlauf der Innovation in den Händen etablierter Unternehmen.

Drittens wird die Kampagne zur „Bändigung“ von Big Tech unweigerlich zu einer Reihe von Einspruchsverfahren und Privatklagen führen, die wohl ein ganzes Jahrzehnt in Anspruch nehmen werden. Zwar könnte es einen – auf Überdruss der Führungskräfte und die Verlagerung des technologischen und kommerziellen Schwerpunkts hin zu künstlicher Intelligenz und virtueller sowie erweiterter Realität beruhenden -  indirekten „GDM-Effekt“ geben, doch dürften dessen direkte Auswirkungen begrenzt sein.

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Das Hauptproblem Europas im Technologiebereich besteht nach wie vor in einem Mangel an heimischer Innovation und eigenen Investitionen. Zwar erhofft man sich mancherorts, dass eine strengere Regulierung den Wettbewerb beleben und Investitionen im Technologiebereich ankurbeln wird, doch sind die diesbezüglichen Aussichten gering. Dies gilt insbesondere dann, wenn Effizienz und Konsumentenwohlfahrt weiterhin als Ziele betrachtet werden. Die mit Sorge auf China blickenden Vereinigten Staaten streben nach umfassenderen Zielen wie wirtschaftlicher Resilienz und strategischer Autonomie. Wie soll die digitale Regulierung Europa helfen, aus seiner aktuell misslichen Lage herauszukommen?

Inmitten der heutigen Polykrise wird Wirtschaftspolitik von Grund auf neu überdacht. US-Präsident Joe Bidens Regierung wandte sich von den Grundsätzen der Effizienz und der Konsumentenwohlfahrt in der Wirtschaftsregulierung ab und stärkt die Industriepolitik und den geregelten Handel. Harvard-Ökonom Dani Rodrik stellte fest, dass die zunehmend einsickernde Erkenntnis, wonach 30 Jahre Hyper-Globalisierung „die Interessen politisch vernetzter Großunternehmen“ in den Vordergrund stellten, während Arbeitskräfte „hinter Grenzen gefangen“ blieben, einen Paradigmenwechsel ausgelöst hat. Aufgrund dessen denken auch Ökonominnen und Ökonomen nun anders über Industriepolitik und sehen sie nicht mehr als nach „innen gerichtet und protektionistisch“, sondern vielmehr als „nach außen gerichtet“ - und nicht mehr beschränkt auf „das klassische Instrument der Subventionen“, sondern verbunden mit „iterativer Zusammenarbeit“ zwischen Regierungen und Unternehmen zur Bekämpfung der „Deindustrialisierung“.

Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan erklärte vor ein paar Monaten: „Das Spiel ist jetzt ein anderes.” Die amerikanische Regierung konzentriert sich mittlerweile auf die Stärkung der Resilienz, die Förderung von Innovationen sowie die Ausweitung wirtschaftlicher Chancen und der Arbeitskräftemobilität.

Im Zentrum dieser Strategie steht die Wiederbelebung der Antitrust-Politik. Im Juni erklärte US-Handelsbeauftragte Katherine Tai, dass „die Priorisierung und Durchsetzung der Konsumentenwohlfahrt in der Wettbewerbspolitik zu einer Konsolidierung und unkontrollierten Dominanz auf unserem heimischen Markt geführt hat.“ Die amerikanische Wirtschaftspolitik hat sich von der „Liberalisierung und dem Streben nach Effizienz und niedrigen Kosten“ abgewendet und legt nun den Schwerpunkt auf die „Anhebung der Standards“, die „Verbesserung der Nachhaltigkeit“ und die „Förderung eines umfassenderen Wohlstands im eigenen Land und im Ausland.“

Europa steht dieser Entwicklung misstrauisch gegenüber, da man den Verdacht hat, es handele sich um wölfischen Protektionismus im Schafspelz. Doch es gibt kein Entrinnen. In seiner Rede im Jahr 2021, in der er den „All-of-Government“-Ansatz seiner Regierung darlegte, betonte Biden die Verflechtung von Handels-, Industrie- und Kartellpolitik. Europa darf nicht dem überholten Paradigma verhaftet bleiben, wonach das Kartellrecht eine technokratische Insel und ein Bollwerk gegen die Entstehung „nationaler Champions“ ist. Die europäischen Regulierungsbehörden müssen begreifen, dass das von ihnen heute praktizierte Kartellrecht alles andere als „rein“ oder „neutral“ ist. Vielmehr handelt es sich um das Produkt des neoliberalen Wandels der 1980er Jahre. Inzwischen betonen US-Vertreter, dass das Kartellrecht auch eine wichtige Rolle spielt, wenn es darum geht, ein anderes Ziel zu erreichen: nämlich nicht Effizienz, sondern Chancen.

Europa braucht für die Wahlen 2024 eine eigene Agenda. Die „Bändigung von Big Tech“ auf Grundlage des GDM ist nicht möglich. Jeder damit erreichte Fortschritt ist zwar zu begrüßen, aber das Gesetz wird die wirtschaftliche und politische Macht der digitalen Torwächter nicht schmälern. Entscheidend ist, dass das GDM allein nicht die europäische Innovation ankurbeln oder Investitionen in die Technologie vorantreiben wird. Die Verfolgung digitaler Torwächter mit Regeln, die auf alten wettbewerbsrechtlichen Grundsätzen beruhen, ist wohl kaum ein Wahlprogramm.

Stattdessen braucht Europa positive Ziele: Pläne zum Aufbau öffentlicher digitaler Infrastrukturen, zur Durchsetzung des Datenschutzes und zur Förderung von Innovationen durch die Schaffung von Anreizen für heimische Investitionen und die Finanzierung von Start-ups, die keine Vasallen etablierter Unternehmen sind. Die europäischen Behörden sollten auch weniger tolerant im Hinblick auf Übernahmen sein und stärker darauf achten, dass die etablierten Digitalkonzerne ihre Macht im Bereich der künstlichen Intelligenz nicht in Vereinbarungen festschreiben, bei denen es sich eigentlich um Fusionen handelt.

Unter den zahlreichen Paradigmenwechseln haben Kartellrecht und Regulierung eine viel umfassendere Rolle zu spielen, als nur der Umsetzung der GDM-Bestimmungen zu dienen. Sie sollten auch industriepolitische Ziele und eine demokratischere Wirtschaftsagenda unterstützen.

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