kesselman1_MARCO LONGARIAFP via Getty Images_food queue south africa MARCO LONGARI/AFP via Getty Images

Was uns COVID-19 über den Hunger gezeigt hat

JOHANNESBURG – In Südafrika können sich viele Menschen nicht mit ausreichenden Mengen an gesunden Nahrungsmitteln versorgen. Ihre Ernährung ist geprägt von einem hohen Anteilan industriell hergestellten Lebensmitteln, bestehend aus raffinierter Stärke, Zucker und Fett.  Sie sind konfrontiert mit einer doppelten Belastung aus Fehlernährung und Fettleibigkeit, die auch als „versteckter Hunger“ bezeichnet wird. Versteckt ist dieser Hunger, weil er nicht zu jenem stereotypen Hungerbild passt, das durch die Berichterstattung der Medien über Hungersnöte hervorgerufen wird. Doch er ist überall.

Um es klar zu sagen: Das Problem ist nicht ein Mangel an Lebensmitteln. In Südafrika ist der Hunger eine Folge fehlenden Zugangs. Ob man ausreichend Kalorien und die angemessenen Nährstoffe bekommt, ist weitgehend einkommensbedingt. Über die hohen Kosten gesunder Lebensmittel hinaus spiegelt der versteckte Hunger im Land auch die begrenzte Verfügbarkeit von nährstoffreichen Produkten in einkommensschwachen Gebieten, die Energiekosten zum Kochen und zur Aufbewahrung von Lebensmitteln und den mangelnden Zugang zu Land für den Eigenanbau wieder.

Die COVID-19-Pandemie und die zu ihrer Eindämmung verhängten strengen Maßnahmen haben den versteckten Hunger ans Licht gebracht, da viele Menschen, die sich vorher gerade genug Lebensmittel leisten konnten, um zu überleben, plötzlich ohne diese dastanden. Laut einer Studie ging 47% der Haushalte in der Frühphase des ersten Lockdowns im April 2020 das Geld zum Kauf von Lebensmitteln aus. Arbeitsplatzverluste, ein hartes Vorgehen der Behörden gegen informelle Anbieter und die durch Störungen der globalen Lieferketten für Lebensmittel und Agrarprodukte verursachte Preiserhöhungen trugen zu einer starken Zunahme der Ernährungsunsicherheit bei. Bilder langer Schlangen von Menschen, die um Nahrungsmittelsoforthilfen anstanden, rückten das Thema ins öffentliche Bewusstsein. Insbesondere die erhöhte Zahl hungernder Kinder war besorgniserregend, wenn auch angesichts der abrupten Schließung von Schulen und die Einstellung der Schulverpflegung nicht überraschend.

Die Pandemie verdeutlichte zudem die Folgen des versteckten Hungers. Weil eine gesunde Ernährung eine Grundvoraussetzung für ein gesundes Immunsystem ist, werden Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist, mit größerer Wahrscheinlichkeit krank. Zudem gibt es eine Korrelation zwischen dem Schweregrad von COVID-19 und Diabetes, einer mit einer schlechten Ernährung verbundenen Krankheit. Daten aus Kapstadt legen nahe, dass COVID-19-Patienten mit Diabetes fast viermal so häufig wegen COVID-19 ins Krankenhaus müssen und mehr als dreimal so oft daran sterben wie Patienten ohne Diabetes.

Doch während COVID-19 die Ernährungsunsicherheit erhöhte und die Folgen des Hungers verdeutlichte, entwickelten sich auch Lösungsansätze zur Verbesserung des Zugangs zu bezahlbaren, gesunden Lebensmitteln. Angesichts der Störungen der globalen Lieferketten begannen sich stärker lokale Systeme für die Lebensmittelversorgung herauszubilden. Wo es die Regierung versäumte, angemessene Maßnahmen zum Ausgleich der wirtschaftlichen Folgen der Lockdowns oder der Einstellung der Schulverpflegung umzusetzen, bemühten sich zivilgesellschaftliche Gruppen, diese Lücke zu füllen. Überall in Südafrika schossen zur Bekämpfung des Hungers lokale Aktionsnetze aus dem Boden, bei denen Freiwillige ihre Mitbürger durch Mahlzeiten und sonstige Hilfsmaßnahmen unterstützten.

Im Umkreis von Johannesburg etwa bemühte sich die C19 People’s Coalition, Kontakte zwischen Kleinbauern, die ihren Zugang zu ihren normalen Märkten verloren hatten, und nahrungsbedürftigen Gemeinschaften herzustellen. Anders als die meisten staatlichen Lebensmittelpakete, die bei Großunternehmen beschafft wurden und nicht verderbliche Artikel weitgehend ohne Nährwert enthielten, waren diese Gemüsepakete darauf ausgelegt, Kleinbauern bei ihrem Lebensunterhalt zu unterstützen und zugleich die Gesundheit schutzbedürftiger Haushalte zu fördern.

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Und doch trägt der Staat eine beträchtliche Verantwortung für die Bekämpfung des Hungers – insbesondere in Südafrika, wo das Recht auf Lebensmittel in der Verfassung verankert ist. Und Beispiele aus aller Welt zeigen, was möglich ist, wenn eine engagierte Regierung mit der Zivilgesellschaft zusammenarbeitet, um die Ernährungsunsicherheit zu bekämpfen.

Belo Horizonte (Brasilien), das auch als „die Stadt, die den Hunger beendete“ tituliert wird, verfügt über einige bemerkenswerte Programme, darunter die „öffentlichen Restaurants“, die jeden Tag tausende an subventionierten gesunden Mahlzeiten servieren, subventionierte Obst- und Gemüseläden, eine Tafel, die Lebensmittelabfälle rettet und daraus zubereitete Mahlzeiten an soziale Einrichtungen verteilt, und bäuerliche Marktstände, um Kleinproduzenten direkt mit den städtischen Verbrauchern zu vernetzen. Diese und andere Programme unterstützen das Auskommen der Bauern und fördern die Gesundheit der Verbraucher. Gleichzeitig bieten sie wirtschaftliche Vorteile und stärken die örtlichen Gemeinschaften.

Der anstehende UN-Ernährungsgipfel nimmt für sich in Anspruch, dass er unterschiedliche Stakeholder zusammenbringen würde, um nachhaltigere und gerechtere Ernährungssysteme zu schaffen. Doch kritisieren Basisbewegungen, Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Gruppen, dass der Gipfel den bestehenden UN-Ausschuss für Welternährungssicherheit umgangen und ein neues Forum geschaffen habe, dessen Ruf bereits durch unangemessenen Einfluss der Konzerne, mangelnde Transparenz und eine Entscheidungsfindung ohne Rechenschaftspflicht beschädigt sei. Diese Gruppen haben zu einem Boykott des Gipfels aufgerufen und sind dabei, eine globale Gegenbewegung zu organisieren.

Die Großunternehmen, die den UN-Gipfel dominieren – Saatgutunternehmen, Hersteller agrochemischer Produkte, Lebensmittelindustrie und Einzelhandel –, haben keine echten Lösungen gegen den Hunger zu bieten. Lebensmittel als Waren zu behandeln, die zur Gewinnerzielung verkauft werden, und nicht als grundlegendes Menschenrecht, ist genau, was zur Krise des versteckten Hungers geführt hat. Es ist schockierend, dass Südafrikas größte Supermarktketten 2020 Gewinne gemacht haben, während die Hälfte der Haushalte des Landes nicht imstande war, sich Lebensmittel zu leisten. Der Einzelhandel prahlt mit seinen Lebensmittelspenden und zahlt zugleich seinen – als „systemrelevant“ designierten – Arbeitnehmern mit die niedrigsten Löhne im Land.

Die wahren Lösungen für die Krise des versteckten Hungers müssen von jenen kommen, die am stärksten betroffen sind: Kleinbauern, die gesunde Lebensmittel für ihre Gemeinschaften produzieren, und einkommensschwachen Verbrauchern, die nur begrenzten Zugang zu einer angemessenen Ernährung haben. Diese Stimmen wurden vom UN-Gipfel vernachlässigt; dabei stellen gerade die solidaritätsbasierten Initiativen, die während der Pandemie entstanden sind, das sicherste Fundament für den Aufbau eines gerechteren und belastbareren Ernährungssystems dar.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/Z25NMiJde