khrushcheva181_ SERGEI BOBYLYOVPOOLAFP via Getty Images)_xi putin SERGEI BOBYLYOV/POOL/AFP via Getty Images

Die fragile Brüderlichkeit zwischen China und Russland

NEW YORK – Im Dezember 1949 flog Mao Zedong nach Moskau, um Josef Stalin zu treffen. Der Führer der erst wenige Monate zuvor gegründeten Volksrepublik China brannte darauf, mit seinem Amtskollegen, dem Anführer des Weltproletariats, den Sieg des Kommunismus in China und den 71. Geburtstag des sowjetischen Ministerpräsidenten zu feiern. Stalin betrachtete Mao jedoch nicht als ebenbürtig. Wie sich die Zeiten doch geändert haben.

Aus Stalins Sicht war Mao nützlich, weil er helfen würde, den Kommunismus in Asien zu verbreiten. Im Februar 1950 unterzeichneten die beiden Führer daher den chinesisch-sowjetischen Vertrag über Freundschaft, Bündnis und gegenseitigen Beistand. Mao wollte aber noch mehr - nämlich Sicherheitsgarantien gegenüber den Vereinigten Staaten und direkte militärische Unterstützung – doch Stalin blieb zurückhaltend. Seiner Ansicht nach stand Mao - als hilfsbedürftiger Nachbar mit größenwahnsinnigen Anwandlungen - nicht nur unter ihm, sondern war auch eine Belastung. Stalin befürchtete, engere Beziehungen zur VR China könnten die Erfolge der Sowjetunion in Asien gefährden und zu einer Intervention der USA führen.

Heute ist es der chinesische Präsident Xi Jinping, der auf seinen russischen Amtskollegen, Wladimir Putin, herabblickt. Tatsächlich war Putins Staatsbesuch in Peking Anfang dieses Monats – seine erste Auslandsreise seit Beginn seiner fünften Amtszeit - praktisch ein Spiegelbild der Begegnung zwischen Stalin und Mao vor 75 Jahren.

Xi empfing Putin auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Rahmen einer Zeremonie mit allem Pomp, dem man sich dabei erwarten würde. Als Putins Konvoi vor der Großen Halle des Volkes vorfuhr, ertönte donnernder Artilleriesalut. Das Orchester der Volksbefreiungsarmee spielte nicht nur die russische Hymne, sondern auch die bei älteren Chinesen beliebte Melodie „Moskauer Nächte“. Die Menge jubelte.

Bei dem Besuch wurde mit Symbolik - oder Propaganda - nicht gespart. Neben der Würdigung des 75-jährigen Bestehens der diplomatischen Beziehungen bildete die Feier auch den Auftakt zu den „chinesisch-russischen Kulturjahren“, im Rahmen derer 230 „kulturelle und künstlerische“ Veranstaltungen in Dutzenden Städten in beiden Ländern stattfinden werden. Unter aufdringlicher Würdigung dieser Verbindungen von Mensch zu Mensch erklärte Putin, Russen und Chinesen seien „für immer Brüder” – eine Anspielung auf ein Lied, das für Maos Besuch in Moskau komponiert wurde - und behauptete, dieser Ausdruck sei in Russland zu einer Art   „Schlagwort” geworden.

Diese Behauptung fanden selbst Kreml-Propagandisten dick aufgetragen. Tatsächlich wird das Lied in Russland aufgrund der wiederholten Störungen in den chinesisch-russischen Beziehungen - beginnend mit dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis - schon lange ins Lächerliche gezogen. Manche behaupten, mein Urgroßvater Nikita Chruschtschow wäre für die Zerstörung der bilateralen Beziehungen verantwortlich, da er 1956 mit Stalin abrechnete. Doch Stalin war nie ein treuer Verbündeter Chinas. Chruschtschow erinnerte zuhause einmal daran, dass der sowjetische Diktator 1951, als der Koreakrieg in eine Pattsituation geraten war, Mao als talentlosen Guerillakämpfer verspottete.

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Auf jeden Fall war Putin nicht nur wegen der Show in Peking. Seit er vor zwei Jahren seine umfassende Invasion in der Ukraine begann - und der Westen mit beispiellosen Sanktionen reagierte - ist Russland in hohem Maße von China abhängig. Als Putin also in Peking landete, hielt er praktisch schon die Hand auf.

Doch wie Stalin vor 75 Jahren hegt auch Xi seine Vorbehalte. Ja, Russland hat seine Vorteile. Wie Xi auf dem jüngsten Gipfel feststellte betrachtet er die bilateralen Beziehungen als „Faktor für die Aufrechterhaltung der globalen strategischen Stabilität und die Demokratisierung der internationalen Beziehungen.“ Das erklärt auch, warum die beiden Länder, wie Putin hervorhob, ein „gewichtiges Portfolio“ von 80 großen Investitionsprojekten aufgebaut haben. Chinas Bereitschaft für Russland zu Opfer zu bringen, hat jedoch klare Grenzen.

Das beginnt schon bei der Wirtschaft. In den letzten Monaten hat sich Xi mit mehreren westlichen Spitzenpolitikern getroffen, darunter Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem amerikanischen Außenminister Antony Blinken. Sie alle überbrachten die gleiche Botschaft: Sollte China weiterhin Güter mit „doppeltem Verwendungszweck” liefern und Technologien zur Verfügung stellen, die Russlands Kriegsanstrengungen unterstützen, werden chinesische Firmen mit Sekundärsanktionen konfrontiert sein.

Xi gab sich alle Mühe unbeeindruckt zu wirken. Aber es ist wohl kein Zufall, dass die chinesischen Exporte nach Russland allein im März um 14 Prozent zurückgegangen sind. Darüber hinaus hat China seit Anfang dieses Jahres seine Direktlieferungen an Maschinen, Anlagen (darunter auch elektrische Anlagen), mechanischen Teilen und Zubehör nach Russland kontinuierlich reduziert. In Anbetracht der Tatsache, dass China Russlands wichtigstes Ursprungsland für Einfuhren ist - im vergangenen Jahr bezog man rund 45 Prozent der gesamten Importe aus China – gibt dies dem Kreml Anlass zu großer Sorge.

Darüber hinaus treibt China das Projekt der Power of Siberia-2-Gaspipeline, über die russisches Gas nach China transportiert werden soll, nur schleppend voran. In dem Wissen, am längeren Hebel zu sitzen, erwartet Xi von Russland, die gesamten Kosten für den milliardenschweren Bau der Pipeline zu tragen, während China weiterhin hohe Preisnachlässe für Energie gewährt werden sollen. In diesem Jahr zahlte China nur 300 Dollar pro 1.000 Kubikmeter Gas, das durch die Power of Siberia-1-Pipeline gepumpt wurde, wohingegen Europa und die Türkei mehr als 500 Dollar pro 1.000 Kubikmeter zu berappen hatten.

Fortschritte bei der Power of Siberia-2-Pipeline sind Putin so wichtig, dass er den für Energieangelegenheiten zuständigen stellvertretenden russischen Ministerpräsidenten Alexander Novak nach Peking mitbrachte. Nach dem Treffen konnte Novak jedoch nicht mehr als eine vage Zusicherung anbieten, dass „in naher Zukunft“ ein Vertrag unterschrieben werden würde.

Auch Putins Versuch im Stile Maos, ein vollwertiges Militärbündnis mit gegenseitigen Verteidigungsverpflichtungen zu schließen, ist offenbar gescheitert. Obwohl China gemeinsame Militärübungen mit Russland abhielt, versucht man sich als Befürworter einer „Win-Win-Kooperation” zu positionieren und sich von der „Mentalität des Kalten Krieges“ zu distanzieren, die von einer Aufteilung der Welt in konkurrierende Blöcke ausgeht. Warum sollte Xi seine Position als eine Art Bindeglied zwischen Russland und dem Westen aufs Spiel setzen?

Xi ist nicht an Streit interessiert, zumindest nicht vordergründig, und Putins Agenda umfasst nichts als Streit. Angesichts der stark divergierenden Interessen der beiden Staatsoberhäupter stellt sich die Frage, ob die chinesisch-russischen Beziehungen wieder einmal dem Untergang geweiht sind. China und Russland könnten tatsächlich „für immer Brüder“ sein.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/uLe64bwde