elerian117_ALBERTO PIZZOLIAFPGetty Images_draghi lagarde Alberto Pizzoli/AFP/Getty Images

Lagardes besondere Fähigkeiten sind Europas Chance

LONDON – Ein hoch angesehener Arzt übernimmt die Behandlung eines chronisch Kranken, der zunehmend schwächer und anfälliger wird. Nicht nur lässt die Wirksamkeit der lange verfolgten bisherigen Behandlung des Patienten inzwischen nach; sie löst nun auch schädliche Nebenwirkungen aus. Es gibt einen besseren Behandlungsansatz, aber der steht im Krankenhaus des neuen Arztes nicht zur Verfügung. Und in den Einrichtungen, in denen er zur Verfügung steht, sind die Ärzte zu abgelenkt, um sich des Falls anzunehmen.

Der neue Arzt ist Christine Lagarde, die weithin bewunderte ehemalige geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds, die in Kürze Mario Draghi als Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) ablösen wird. Die sich ihr stellende Herausforderung besteht darin, ein zweites verlorenes Jahrzehnt schwachen, unzureichend breit gestreuten Wachstums in der Eurozone zu vermeiden. Wie es dem Patienten in ihrer Obhut ergeht – und ob sie zentrale Regierungen innerhalb der Eurozone dazu bewegen kann, die notwenige Behandlung zur Verfügung zu stellen –, wird nicht nur ihr eigenes Erbe bestimmen, sondern auch Draghis.

Es bestehen inzwischen wenig Zweifel, dass die europäische Wirtschaft an Schwung verliert. Die frühere, übertrieben optimistische Prognose einer nachhaltigen Konjunkturerholung hat endlich der grimmigen Realität Platz gemacht, dass die Wirtschaftsaktivität sowohl strukturellem als auch zyklischem Gegenwind ausgesetzt ist. Die bisherige Konsensprognose, die für 2019 von einem Wachstum von rund 2% ausging, pendelt sich derzeit auf rund 1% ein und könnte durchaus noch weiter fallen.

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