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Furcht oder Hoffnung auf der COP27?

WASHINGTON, DC – Bitten Sie zwei verschiedene Klimaexperten auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Ägypten (COP27), ihre Gefühle über die Zukunft zu beschreiben, und Sie werden ganz unterschiedliche Antworten erhalten. „Wir machen mehr Fortschritte, als wir uns je vorstellen konnten“, sagt der eine, während der andere beklagt, dass wir wie Lemminge mit Volldampf auf die Klippe zusteuern. Sie können doch nicht beide Recht haben, oder?

In der Tat haben beide genügend Beweise auf ihrer Seite, und nur wenn wir beide Sichtweisen in Einklang bringen, werden wir das Gefühl der Dringlichkeit aufbringen, das die Klimakrise erfordert.

Um Hoffnung zu wecken, könnte der erste Experte darauf hinweisen, dass die Kosten für Solarenergie um 99 % gesunken sind, seit Präsident Jimmy Carter 1979 Sonnenkollektoren auf dem Dach des Weißen Hauses anbringen ließ, und dass sich das Jahr 2022 zu einem Rekordjahr für erneuerbare Energien entwickeln wird. Der Absatz von Elektrofahrzeugen wächst so schnell, dass der Verbrennungsmotor bereits dauerhaft auf dem Rückzug ist. In Indonesien ist der Verlust an Primärwäldern seit fünf Jahren in Folge zurückgegangen, was einer innovativen Partnerschaft zwischen Regierung, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Technologieexperten zu verdanken ist.

Darüber hinaus haben sich fast 100 Länder, auf die über 75 % der weltweiten Emissionen entfallen, verpflichtet, bis Mitte des Jahrhunderts Netto-Null-Emissionen zu erreichen. Und die Vereinigten Staaten haben gerade mit dem Inflation Reduction Act, der schätzungsweise 800 Milliarden Dollar oder mehr an klimarelevanten Investitionen mobilisieren könnte, eine massive Anzahlung auf ihre grüne Zukunft geleistet.

Damit wir aber nicht glauben, wir seien fast schon über dem Berg, weist unser düsterer Experte darauf hin, dass der Klimawandel mit nur 1,1° Celsius Erwärmung bereits beispiellose Kosten verursacht. Bei den katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan in diesem Sommer stand ein Drittel des Landes unter Wasser, und der Südwesten Nordamerikas leidet unter der schlimmsten Dürre seit 1.200 Jahren. In China hat die Dürre die Stromerzeugung aus Wasserkraft lahmgelegt und Fabriken zur Schließung gezwungen. Das Great Barrier Reef wurde seit 1998 bereits sechs Mal von einer Massenbleiche heimgesucht. Und in der Ostantarktis, wo die Temperaturen an einem Tag in diesem Jahr satte 38,5 °C über dem Normalwert lagen, ist gerade ein massives Schelfeis zusammengebrochen – das erste derartige Ereignis seit mindestens einem halben Jahrhundert.

Erschwerend kommt hinzu, dass Russlands Krieg in der Ukraine einen Kampf um fossile Brennstoffe ausgelöst hat, und Unternehmen, Banken und Regierungen finden es schwieriger als erwartet, ihre Klimaversprechen einzulösen. Wir steuern auf einen Temperaturanstieg zu, der deutlich über der 2°C-Schwelle des Pariser Klimaabkommens liegt. Ein so heißer Planet wäre für uns heute kaum wiederzuerkennen.

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Ein wichtiger neuer Bericht des Systems Change Lab – einer vom World Resources Institute, dem Bezos Earth Fund und seinen Partnern organisierten Initiative – beleuchtet diese beiden Realitäten und weist auf eine neue Denkweise über Veränderungen hin. Auf der Seite des Pessimismus zeigt der Bericht, dass keine der 40 sektoralen Transformationen, die zur Bewältigung der Klimakrise in diesem Jahrzehnt erforderlich sind, sich noch auf dem richtigen Weg befindet.

Beispielsweise muss der Kohleausstieg um das Sechsfache beschleunigt werden – das entspricht der Stilllegung von 925 durchschnittlich großen Kohlekraftwerken pro Jahr. In ähnlicher Weise müssen die jährlichen Entwaldungsraten 2,5-mal schneller sinken, und das jüngste Wachstum der Ernteerträge muss sich in diesem Jahrzehnt um fast das Siebenfache beschleunigen, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, ohne in Waldgebiete einzudringen. All diese Transformationen hängen von der globalen Klimafinanzierung ab, die selbst von ihrem derzeitigen Niveau aus um das Achtfache steigen muss.

Aber der Bericht erklärt auch, dass der Wandel selten linear verläuft und dass exponentieller Fortschritt – eine plötzliche „Hockeyschläger“-Beschleunigung – möglich ist, wenn er durch mutige Führung und unterstützende Richtlinien gefördert wird. Innerhalb von nur zwei Jahren, von 2019 bis 2021, wuchs die Solarstromerzeugung weltweit um 47 % und die Windkraft um 31 %, was die Vorhersagen der Analysten deutlich übertraf. Und zwischen 2013 und 2021 stieg der weltweite Verkauf von Bussen mit kohlenstofffreiem Antrieb von 2 % auf 44 % – eine 20-fache Steigerung in weniger als einem Jahrzehnt.

Darüber hinaus wissen wir, dass einige Systeme in Richtung positiver Wendepunkte getrieben werden können – wie z. B. die Preisparität zwischen etablierten fossilen Brennstoffquellen und erneuerbaren Energien –, nach denen der Wandel nicht mehr aufzuhalten ist. Wir müssen alles tun, um diese Wendepunkte so schnell wie möglich zu erreichen. Angesichts dessen, wie wenig vom CO2-Budget der Menschheit noch übrig ist, können wir uns nicht länger den Luxus leisten, nur die kostengünstigsten Optionen zu verfolgen. Wir brauchen einen Systemwandel in allen Bereichen menschlicher Aktivität – von der Art und Weise, wie wir unsere Nahrung anbauen und unsere Häuser mit Strom versorgen, wie wir unsere Städte bauen und uns selbst und unsere Waren transportieren.

Die Beschleunigung des Übergangs zu einer Netto-Null-Wirtschaft erfordert eine Änderung der Anreize, neue Vorschriften und Gesetze, Verhaltensänderungen, Innovationen und eine unerschütterliche Führung. Wir beginnen das vierte Jahr des entscheidenden Jahrzehnts zur Abwendung des katastrophalen Klimawandels. Wir müssen Berge versetzen, koste es was es wolle.

Führende Politiker der Welt, die sich diesen Monat auf der COP27 versammeln, sollten weder verzweifelt die Hände über den Kopf zusammenschlagen noch fröhlich verkünden, dass der Sieg vor der Tür steht. Vielmehr sollten sie sorgfältig prüfen, was transformiert werden muss und was erforderlich ist, um die wesentlichen Wendepunkte zu überwinden. Dies ist der Moment, in dem wir die Bedingungen schaffen müssen, die weitere positive Veränderungen sowohl unwiderstehlich als auch unaufhaltsam machen. Dann würden sich auch all diese CO2-emittierenden Flüge nach Sharm El-Sheikh lohnen.

Übersetzung: Andreas Hubig

https://prosyn.org/2zV4k3mde