NEU-DELHI – Russlands Krieg in der Ukraine hat Indiens strategische Schwachstellen bloßgelegt und grundlegende Fragen über die Stellung des Landes in der Welt, seine regionale Sicherheit und die Klugheit seiner langfristigen Beziehungen aufgeworfen.
Indien hat sich bei mehreren Resolutionen der Vereinten Nationen – im Sicherheitsrat, in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat – mit denen die russische Invasion verurteilt wurde, der Stimme enthalten. In seiner ersten „Erklärung zur Abstimmung“, hat Indien weder Russland ausdrücklich erwähnt noch die Invasion verurteilt. Stattdessen forderte Indien nur eine Deeskalation des Konflikts, als ob der Krieg von beiden Seiten eingeheizt würde und es nicht einen offenkundigen Aggressor und ein klares Opfer gäbe. Schon als Russland die Unabhängigkeit der von Separatisten beherrschten ukrainischen Regionen Donetsk und Luhansk anerkannte, hatte Indien dies nicht verurteilt.
In einer späteren Erklärung wiederholte die Regierung von Premierminister Narendra Modi zumindest Indiens seit langem geltenden Grundsätze und forderte „gemeinsame Anstrengungen“ aller Seiten für eine Rückkehr zu Diplomatie, Verhandlungen und Dialog. Trotz steigender Opferzahlen – zu denen auch ein indischer Student gehört, der in der Schlange vor einem Lebensmittelladen in Charkiw durch russischen Beschuss getötet wurde – fordert Modis Regierung weiterhin vergeblich Frieden und sorgt gleichzeitig dafür, dass Russland von offizieller Seite nicht kritisiert und schon gar nicht verurteilt wird.
Die Gründe für Indiens Zurückhaltung sind leicht zu erkennen. Erstens bezieht Indien rund 50 Prozent seiner Waffen und Militärgüter aus Russland. Und obwohl Indiens wirtschaftliche Beziehungen mit Russland an den Handel mit den Vereinigten Staaten bei weitem nicht heranreichen, genießt das Land schon seit Sowjetzeiten enge diplomatische Beziehungen zum Kreml. Die Sowjetunion schützte mit Vetos bei den UN indische Interessen in Kaschmir und auch im Bangladesch-Krieg von 1971, in dem die USA und China auf der Seite Pakistans standen, war die sowjetische Unterstützung für Indien lebenswichtig.
Russlands geopolitische Annäherung an China bereitet der indischen Politik deshalb schon länger Kopfzerbrechen. Selbst Chinas Satellitenstaat Pakistan findet im Kreml inzwischen ein offenes Ohr. Pakistans Premierminister Imran Khan war an dem Tag, an dem Russland in der Ukraine einmarschierte, in Moskau und führte seine Gespräche mit Präsident Wladimir Putin und anderen Spitzenpolitikern fort – ein klares Zeichen, dass Russlands die Lage auf dem Subkontinent neu bewertet. In Indien herrscht deshalb anscheinend das Gefühl, dass man sich Russlands guten Willen mit allen Mitteln verdienen muss, um das Land nicht ganz zu verlieren.
Indien hat sich in den letzten Jahren aber auch dem Westen zugewandt und eine strategische Partnerschaft mit den USA aufgebaut, die sich auch in einer zunehmenden Verteidigungszusammenarbeit ausdrückt. Es schätzt den informellen „quatrilateralen Sicherheitsdialog“, an dem auch Japan und Australien beteiligt sind, als wichtiges Gegengewicht zu China. Jetzt jedoch erkennt die indische Führung, dass sie diese Beziehungen gefährden, wenn sie ihre Dialogpartner bei der Verurteilung des russischen Angriffs im Stich lässt. Die Regierung muss einen Drahtseilakt vollführen und möchte sich keiner Seite zu stark zuneigen.
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Der Krieg in der Ukraine stellt Indien aber noch vor ein weiteres strategisches Dilemma. Bevor sich die Krise Ende letzten Jahres langsam zuspitzte, hatten sich die USA nicht auf Europa konzentriert, sondern auf den Indo-Pazifik und die globale Bedrohung durch China. Jetzt erlebt das obsessive Feindbild Russland womöglich eine Renaissance. Das könnte die amerikanische Feindseligkeit gegenüber China, Indiens bedrohlichem Nachbarn im Norden, abschwächen, der die umstrittene Grenze der beiden Länder im Himalaya schon häufiger verletzt und bei einem grundlosen Angriff vor nicht ganz zwei Jahren 20 indische Soldaten getötet hat.
Das alles in einer Zeit, in der die Sicherheit des Landes durch Afghanistan so stark bedroht ist, wie seit der letzten Herrschaft der Taliban vor zwanzig Jahren nicht mehr. China baut seine militärische Infrastruktur in der Region auf, schickt finanzielle Hilfen an die Taliban und öffnet sich dem Iran, mit dem Indien bei der Eindämmung des letzten Taliban-Regimes kooperiert hatte. Pakistan verstärkt seine Unterstützung für Milizen in Kaschmir. Vor kurzem erst hielten Russland, China und der Iran eine gemeinsame Flottenübung im indischen Ozean ab. All dies bringt Indien in die Defensive.
Indiens traditionelle Verbündete in der Region merken auch, woher der Wind weht. Nepal hat China erlaubt, in seinen nördlichen Grenzgebieten Eisenbahnstrecken und Autobahnen zu bauen. Bhutan hat letzten Oktober ein Grenzabkommen unterzeichnet, das China alle von diesem beanspruchten Gebiete überlässt und die Chinesen in eine günstige Position für künftige Konflikten mit Indien bringt. Die meisten anderen südasiatischen Nachbarn haben sich der chinesischen Initiative für eine Neue Seidenstraße angeschlossen, die Indien vehement ablehnt.
Chinas wachsender Einfluss in diesen Ländern untergräbt Indiens diplomatische Stellung im eigenen Hinterhof. Und im Osten hat die herrschende Junta in Myanmar ihre „besondere Freundschaft“ mit China entdeckt, während die vorherigen Machthaber Indien noch als wichtiges Gegengewicht zu China sahen.
Kurz gesagt, hat der russische Angriff auf die Ukraine Indien in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht. Im Idealfall hätte Indien gern seine Partnerschaft mit den westlichen Demokratien, allen voran Australien, Frankreich, Japan, Großbritannien und den USA, ausgebaut, ohne seine traditionelle Nähe zu Russland aufzugeben – in der Hoffnung, dies würde China künftig davon abhalten, wichtige Sicherheitsinteressen Indiens zu verletzen. Stattdessen steckt Indien jetzt in einer Sackgasse. Seine abwartende Haltung verärgert den Westen, hält Russland aber vermutlich trotzdem nicht davon ab, zu China überzulaufen, während Pakistan dank der neu aufkeimenden Freundschaft zu seinen afghanischen und iranischen Nachbarn im Kaschmir-Konflikt immer kühner wird.
Der Konflikt in der Ukraine ist für Indiens großartige Strategie ein gewaltiger Rückschlag. Für ein Land mit feindseligen Nachbarn, die seine Grenzen bedrohen, ist Neutralität keine gute Option. Indiens Scheu, bei großen internationalen Konflikten Stellung zu beziehen, könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Indien die Hilfe anderer Länder braucht, als kostspieliger Fehler erweisen. Dann heißt es für Modi: friss oder stirb!
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While the Democrats have won some recent elections with support from Silicon Valley, minorities, trade unions, and professionals in large cities, this coalition was never sustainable. The party has become culturally disconnected from, and disdainful of, precisely the voters it needs to win.
thinks Kamala Harris lost because her party has ceased to be the political home of American workers.
This year’s many elections, not least the heated US presidential race, have drawn attention away from the United Nations Climate Change Conference (COP29) in Baku. But global leaders must continue to focus on combating the climate crisis and accelerating the green transition both in developed and developing economies.
foresees multilateral development banks continuing to play a critical role in financing the green transition.
NEU-DELHI – Russlands Krieg in der Ukraine hat Indiens strategische Schwachstellen bloßgelegt und grundlegende Fragen über die Stellung des Landes in der Welt, seine regionale Sicherheit und die Klugheit seiner langfristigen Beziehungen aufgeworfen.
Indien hat sich bei mehreren Resolutionen der Vereinten Nationen – im Sicherheitsrat, in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat – mit denen die russische Invasion verurteilt wurde, der Stimme enthalten. In seiner ersten „Erklärung zur Abstimmung“, hat Indien weder Russland ausdrücklich erwähnt noch die Invasion verurteilt. Stattdessen forderte Indien nur eine Deeskalation des Konflikts, als ob der Krieg von beiden Seiten eingeheizt würde und es nicht einen offenkundigen Aggressor und ein klares Opfer gäbe. Schon als Russland die Unabhängigkeit der von Separatisten beherrschten ukrainischen Regionen Donetsk und Luhansk anerkannte, hatte Indien dies nicht verurteilt.
In einer späteren Erklärung wiederholte die Regierung von Premierminister Narendra Modi zumindest Indiens seit langem geltenden Grundsätze und forderte „gemeinsame Anstrengungen“ aller Seiten für eine Rückkehr zu Diplomatie, Verhandlungen und Dialog. Trotz steigender Opferzahlen – zu denen auch ein indischer Student gehört, der in der Schlange vor einem Lebensmittelladen in Charkiw durch russischen Beschuss getötet wurde – fordert Modis Regierung weiterhin vergeblich Frieden und sorgt gleichzeitig dafür, dass Russland von offizieller Seite nicht kritisiert und schon gar nicht verurteilt wird.
Die Gründe für Indiens Zurückhaltung sind leicht zu erkennen. Erstens bezieht Indien rund 50 Prozent seiner Waffen und Militärgüter aus Russland. Und obwohl Indiens wirtschaftliche Beziehungen mit Russland an den Handel mit den Vereinigten Staaten bei weitem nicht heranreichen, genießt das Land schon seit Sowjetzeiten enge diplomatische Beziehungen zum Kreml. Die Sowjetunion schützte mit Vetos bei den UN indische Interessen in Kaschmir und auch im Bangladesch-Krieg von 1971, in dem die USA und China auf der Seite Pakistans standen, war die sowjetische Unterstützung für Indien lebenswichtig.
Russlands geopolitische Annäherung an China bereitet der indischen Politik deshalb schon länger Kopfzerbrechen. Selbst Chinas Satellitenstaat Pakistan findet im Kreml inzwischen ein offenes Ohr. Pakistans Premierminister Imran Khan war an dem Tag, an dem Russland in der Ukraine einmarschierte, in Moskau und führte seine Gespräche mit Präsident Wladimir Putin und anderen Spitzenpolitikern fort – ein klares Zeichen, dass Russlands die Lage auf dem Subkontinent neu bewertet. In Indien herrscht deshalb anscheinend das Gefühl, dass man sich Russlands guten Willen mit allen Mitteln verdienen muss, um das Land nicht ganz zu verlieren.
Indien hat sich in den letzten Jahren aber auch dem Westen zugewandt und eine strategische Partnerschaft mit den USA aufgebaut, die sich auch in einer zunehmenden Verteidigungszusammenarbeit ausdrückt. Es schätzt den informellen „quatrilateralen Sicherheitsdialog“, an dem auch Japan und Australien beteiligt sind, als wichtiges Gegengewicht zu China. Jetzt jedoch erkennt die indische Führung, dass sie diese Beziehungen gefährden, wenn sie ihre Dialogpartner bei der Verurteilung des russischen Angriffs im Stich lässt. Die Regierung muss einen Drahtseilakt vollführen und möchte sich keiner Seite zu stark zuneigen.
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Der Krieg in der Ukraine stellt Indien aber noch vor ein weiteres strategisches Dilemma. Bevor sich die Krise Ende letzten Jahres langsam zuspitzte, hatten sich die USA nicht auf Europa konzentriert, sondern auf den Indo-Pazifik und die globale Bedrohung durch China. Jetzt erlebt das obsessive Feindbild Russland womöglich eine Renaissance. Das könnte die amerikanische Feindseligkeit gegenüber China, Indiens bedrohlichem Nachbarn im Norden, abschwächen, der die umstrittene Grenze der beiden Länder im Himalaya schon häufiger verletzt und bei einem grundlosen Angriff vor nicht ganz zwei Jahren 20 indische Soldaten getötet hat.
Das alles in einer Zeit, in der die Sicherheit des Landes durch Afghanistan so stark bedroht ist, wie seit der letzten Herrschaft der Taliban vor zwanzig Jahren nicht mehr. China baut seine militärische Infrastruktur in der Region auf, schickt finanzielle Hilfen an die Taliban und öffnet sich dem Iran, mit dem Indien bei der Eindämmung des letzten Taliban-Regimes kooperiert hatte. Pakistan verstärkt seine Unterstützung für Milizen in Kaschmir. Vor kurzem erst hielten Russland, China und der Iran eine gemeinsame Flottenübung im indischen Ozean ab. All dies bringt Indien in die Defensive.
Indiens traditionelle Verbündete in der Region merken auch, woher der Wind weht. Nepal hat China erlaubt, in seinen nördlichen Grenzgebieten Eisenbahnstrecken und Autobahnen zu bauen. Bhutan hat letzten Oktober ein Grenzabkommen unterzeichnet, das China alle von diesem beanspruchten Gebiete überlässt und die Chinesen in eine günstige Position für künftige Konflikten mit Indien bringt. Die meisten anderen südasiatischen Nachbarn haben sich der chinesischen Initiative für eine Neue Seidenstraße angeschlossen, die Indien vehement ablehnt.
Chinas wachsender Einfluss in diesen Ländern untergräbt Indiens diplomatische Stellung im eigenen Hinterhof. Und im Osten hat die herrschende Junta in Myanmar ihre „besondere Freundschaft“ mit China entdeckt, während die vorherigen Machthaber Indien noch als wichtiges Gegengewicht zu China sahen.
Kurz gesagt, hat der russische Angriff auf die Ukraine Indien in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht. Im Idealfall hätte Indien gern seine Partnerschaft mit den westlichen Demokratien, allen voran Australien, Frankreich, Japan, Großbritannien und den USA, ausgebaut, ohne seine traditionelle Nähe zu Russland aufzugeben – in der Hoffnung, dies würde China künftig davon abhalten, wichtige Sicherheitsinteressen Indiens zu verletzen. Stattdessen steckt Indien jetzt in einer Sackgasse. Seine abwartende Haltung verärgert den Westen, hält Russland aber vermutlich trotzdem nicht davon ab, zu China überzulaufen, während Pakistan dank der neu aufkeimenden Freundschaft zu seinen afghanischen und iranischen Nachbarn im Kaschmir-Konflikt immer kühner wird.
Der Konflikt in der Ukraine ist für Indiens großartige Strategie ein gewaltiger Rückschlag. Für ein Land mit feindseligen Nachbarn, die seine Grenzen bedrohen, ist Neutralität keine gute Option. Indiens Scheu, bei großen internationalen Konflikten Stellung zu beziehen, könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft, wenn Indien die Hilfe anderer Länder braucht, als kostspieliger Fehler erweisen. Dann heißt es für Modi: friss oder stirb!