pa3771.jpg Paul Lachine

Japans Schuttwirtschaft

TOKIO – Am 11. März jährt sich der Tag, als Japan von der dreifachen Tragödie eines Erdbebens, eines Tsunamis und eines Atomunfalls heimgesucht wurde. Laut den von der japanischen nationalen Polizeiagentur veröffentlichten Zahlen starben bei dem großen ostjapanischen Erdbeben 15.848 Menschen und 3.305 werden noch vermisst. Das ist die höchste Opferzahl aufgrund einer Naturkatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Suche nach den Vermissten – hauptsächlich auf See – dauert noch an.

Durch Erdbeben oder Tsunami wurden 128.582 Gebäude komplett und 243.914 Gebäude teilweise zerstört, 281 Bauten brannten vollständig oder teilweise ab, 33.056 Gebäude wurden überflutet (17.806 davon auch in Stockwerken über dem Erdgeschoss) und 674.641 Bauten wurden anderweitig in Mitleidenschaft gezogen. Ungefähr 320.000 Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf, wobei mehr als 90 Prozent davon noch immer in vorübergehenden Unterkünften leben. Wo man ihre Häuser wiederaufbauen soll, ist noch nicht entschieden.

Das große Hanshin-Erdbeben, das Westjapan im Jahr 1995 heimsuchte, kostete 6.343 Menschen das Leben, teilweise auch, weil die Rettungskräfte aufgrund der labyrinthartigen Straßen der Stadt nicht zu den Opfern vordringen konnten. Danach wurde die Stadt in vollkommen anderer und sicherer Form wiederaufgebaut.

Trotz zahlreicher Schwierigkeiten erfolgte die Erholung nach diesem Erdbeben rascher als erwartet. Es gab keinen Tsunami, der die Dinge kompliziert hätte und beim Wiederaufbau konnte man sich auf Gebäude konzentrieren, die beim Erdbeben eingestürzt waren. Außerdem zeigte die japanische Regierung Führungsstärke und die Behörden reagierten rasch und ermöglichten unter anderem auch die rasche Beseitigung der Trümmer.

Abgesehen von finanzpolitischen Fragen ist die Beseitigung der Trümmer und des Schutts überall das größte Hindernis bei dem Wiederaufbau nach einer Naturkatastrophe. Nach dem großen Hanshin-Erdbeben fiel so viel Schutt an, wie Japan im Normalfall in ungefähr acht Jahren deponiert. Schwierigkeiten wie beschädigte Entsorgungseinrichtungen wurden durch Zusammenarbeit und Lastenaufteilung unter den lokalen Regierungen bewältigt. Und glücklicherweise sorgten die Pläne, den Flughafen Kobe auf einer künstlichen Insel vor der Küste zu errichten, für Nachfrage an Schutt. 

In Japan wird das Abfallentsorgungsproblem hauptsächlich durch Verbrennung gelöst, aber durch die Deponierung von Schutt vor der Küste zur Errichtung einer künstlichen Insel wurde eine raschere Beseitigung der Trümmer ermöglicht. Trotzdem brauchte man dafür etwa drei Jahre und die Kosten für die Zentralregierung beliefen sich auf 324,8 Milliarden Yen.

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Im Vergleich zu den Arbeiten nach dem großen Hanshin-Beben verläuft der Wiederaufbau nach dem großen ostjapanischen Erdbeben im Schneckentempo. Die Menge des angefallenen Schutts entspricht jener Menge, die in der Präfektur Iwate in 11 Jahren anfällt und in der Präfektur Miyagi in 19 Jahren – enorme Mengen also, die die Entsorgungskapazitäten der Regionen sprengen. Die auf 776,7 Milliarden Yen geschätzten Kosten der Entsorgung sind doppelt so hoch wie die Entsorgungskosten nach dem Hanshin-Beben.

Im Gegensatz zu den relativ raschen Aufräumarbeiten nach dem Hanshin-Beben ist der durch das Beben des letzten Jahres entstandene Schutt erst zu 5 Prozent beseitigt. An provisorischen Sammelstellen in den betroffenen Gebieten türmen sich die Reste von Baumaterial, Haushaltsgeräten und Möbeln, da die im Jahr 1995 eingeführten Bestimmungen die Mülltrennung nach Material vorschreiben. Außerdem bestehen keinerlei Pläne, mit Schutt künstliche Inseln zu errichten, wie dies im Falle des Flughafens Kobe geschah.  

Aufgrund des Tsunamis wird ein Teil des Abfalls in ungefähr einem Jahr auch über den Pazifik Hawaii und die Westküste der Vereinigten Staaten erreichen. Aber die durch den Tsunami verursachten Schäden sind ebenfalls schuld an den erheblichen Verzögerungen beim Wiederaufbau. Lokale Regierungen überlegen, in welcher Entfernung von der Küste Wohngebiete errichten werden sollen, wobei sich auch die Sorge um die Zukunft jener Menschen verstärkt, die gezwungen sind, mit Fremden in vorübergehenden Unterkünften in fremden Gegenden zu leben.

Der Hauptgrund für die Verzögerungen des Wiederaufbaus besteht allerdings in der Sorge vor radioaktiver Strahlung aus dem zerstörten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Aus Angst vor radioaktiver Verseuchung des Schutts wehren sich die Bewohner gegen die Deponierung des Schutts in ihrer Umgebung – selbst wenn es sich dabei um Trümmer handelt, der nicht aus der Gegend um Fukushima stammen. Und obwohl Müllverbrennung für eine beträchtliche Verringerung des Abfallvolumens sorgt, hat die im letzten Jahr gestiegene Konzentration an radioaktivem Cäsium die Suche nach geeigneten Endlagern erschwert.

Die Chefs lokaler Regierungen in verschiedenen Regionen versuchen die Bewohner nun zu überzeugen, dass kein Grund besteht, sich vor radioaktiver Strahlung zu fürchten und sie deshalb der Deponierung des Schutts in ihrer Umgebung zustimmen sollen. Aber der unsichtbare Feind schürt – vor allem unter Müttern kleiner Kinder – Bedenken, die eher psychologisch als naturwissenschaftlich begründet sind. Als weltweit einziges Opfer eines Atombombenangriffs ist die Abneigung gegen Strahlung in Japan stärker ausgeprägt als anderswo auf der Welt.

Mit Ausnahme der durch die Katastrophe in Fukushima verursachten besonderen Umstände ist Japan nicht das einzige Land, das mit Aufräumarbeiten vor dem Wiederaufbau kämpft. Das Anfang dieses Jahres von Überschwemmungen heimgesuchte Thailand steht ebenfalls vor dem Problem der Schuttbeseitigung, bevor mit dem Wiederaufbau begonnen werden kann. Maßnahmen zum Hochwasserschutz und der Beseitigung von Schäden in den betroffenen Gebieten Bangkoks können nicht einmal in Angriff genommen werden, bevor man dem Schutt Herr geworden ist. Auch Haiti und Neuseeland stehen vor ähnlichen Problemen.

Der Wiederaufbau stellt eine besondere Art öffentlicher Bauaufträge dar. Die Beseitigung des Schutts hat angesichts ihres arbeitsintensiven Charakters, zumindest kurzfristig, einen besonders ausgeprägten Effekt auf die Arbeitsplatzschaffung. Man könnte das als „Schutt-Wirtschaft“ bezeichnen. Dabei handelt es sich um die zwangsläufige Formel für die Erholung: eine Schaufelladung nach der anderen.

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