ac26b80246f86ff811c58d09_jk7.jpg Jon Krause

Eine Universalbibliothek

MELBOURNE: Gelehrte träumen seit langem von einer Universalbibliothek, die alles je Geschriebene umfasst. Und als 2004 Google bekannt gab, dass es anfangen würde, alle von den wichtigsten Forschungsbibliotheken gehaltenen Bücher einzuscannen, schien die Bibliothek aus der Utopie plötzlich in Reichweite.

Tatsächlich wäre eine digitale Universalbibliothek sogar noch besser, als ein Denker früherer Zeiten sich das hätte vorstellen können, denn jedes Werk stünde jedem jederzeit zur Verfügung. Und die Bibliothek könnte nicht nur Bücher und Artikel enthalten, sondern auch Gemälde, Musik, Filme und jede andere digital erfassbare Form kreativen Ausdrucks.

Aber Googles Plan hatte einen Haken. Die meisten der Werke in diesen Forschungsbibliotheken sind noch immer urheberrechtlich geschützt. Google erklärte, dass es das gesamte Buch unabhängig von seinem Urheberrechtsstatus einscannen würde, aber dass Nutzer, die in einem urheberrechtlich geschützten Buch etwas suchen, nur kleine Ausschnitte gezeigt bekommen würden. Dies, so argumentierte es, sei „freie Benutzung“ – und daher nach dem Urheberrecht zulässig, genau so, wie man zu Rezessions- oder Diskussionszwecken einen oder zwei Sätze zitieren dürfe.

Verlage und Autoren sahen dies anders, und einige verklagten Google wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht – und verglichen sich dann letztlich im Austausch gegen einen Anteil von Googles Erlösen. Im vergangenen Monat nun lehnte Richter Denny Chin in einem Gericht in Manhattan diesen vorgesehenen Vergleich ab, u.a., weil er Google ein faktisches Monopol über die digitalen Versionen so genannter „verwaister Bücher“ gegeben hätte; das sind Bücher, die noch immer urheberrechtlich geschützt, aber nicht mehr im Druck sind und wo der Urheberrechtsinhaber schwer feststellbar ist.

Chin befand, dass der US-Kongress und nicht ein Gericht die richtige Stelle sei, zu entscheiden, wem diese verwaisten Bücher anzuvertrauen seien und zu welchen Bedingungen. Er hatte sicher Recht, zumindest soweit wir Fragen betrachten, die in die Gerichtsbarkeit der USA fallen. Dies sind große und bedeutende Themen, die nicht nur Autoren, Verleger und Google betreffen, sondern jeden mit einem Interesse an der Verbreitung und Verfügbarkeit von Wissen und Kultur. Chins Entscheidung mag daher ein vorläufiger Rückschlag auf dem Weg hin zu einer Universalbibliothek sein, doch bietet sie uns Gelegenheit, erneut zu überdenken, wie sich der Traum am besten realisieren lässt.

Die zentrale Frage ist Folgende: Wie können wir Bücher und Artikel – und nicht nur kleine Ausschnitte, sondern ganze Werke – für jeden verfügbar machen und gleichzeitig die Rechte der Urheber schützen? Um das zu beantworten, müssen wir natürlich entscheiden, was diese Rechte sind. Genau wie Erfinder Patente erhalten, damit sie für eine begrenzte Zeit von ihren Innovationen profitieren können, erhielten Autoren ursprünglich Urheberrechte für eine relativ kurze Zeit – in den USA waren es lediglich 14 Jahre ab dem Datum der Erstveröffentlichung des Werkes.

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Für die meisten Autoren wäre dies Zeit genug, um den Großteil des Einkommens, das sie je aus ihren Veröffentlichungen ziehen werden, zu verdienen; danach wären die Werke dann öffentliches Eigentum. Die Konzerne aber verdienen sich eine goldene Nase am Urheberrecht und drängten den Kongress wiederholt, dieses auszuweiten – sodass es in den USA jetzt 70 Jahre über den Tod des Urhebers hinaus gilt. (Das Gesetz aus dem Jahre 1998, das für die letzte Verlängerung verantwortlich war, trägt den Spitznahmen „Mickey Mouse Protection Act“, weil es der Walt Disney Company erlaubte, das Urheberrecht an Disneys berühmter Comic-Figur zu behalten.)

Dass das Urheberrecht eine so lange Geltungszeit hat, hat dazu geführt, dass inzwischen bis zu drei Viertel aller Bibliotheksbücher „verwaist“ sind. Dieser enorme Fundus an Wissen, Kultur und literarischer Leistung ist den meisten Menschen nicht zugänglich. Seine Digitalisierung würde ihn für jeden mit einem Internetanschluss verfügbar machen. Peter Brantley, technologischer Direktor der California Digital Library, hat es so formuliert: „Wir haben eine moralische Verpflichtung, an die Regale unserer Büchereien zu gehen, uns das verwaiste Material zu schnappen und es auf einen Scanner zu legen.“

Ein Alternativvorschlag zu den Plänen von Google kommt von Robert Darnton, Direktor der Bibliothek der Universität Harvard: eine von einer Gruppe von Stiftungen, die mit einer Gruppe von Forschungsbibliotheken zusammenarbeiten, finanzierte öffentliche Digitalbibliothek. Darntons Plan bleibt hinter der Idee einer Universalbibliothek zurück, weil er im Druck befindliche Werke und Werke, deren Urheberrecht noch nicht abgelaufen ist, ausnimmt; Darnton glaubt jedoch, dass der Kongress einer nicht gewerblichen öffentlichen Bibliothek ggf. das Recht einräumen würde, verwaiste Bücher zu digitalisieren.

Das wäre ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, doch sollten wir den Traum von einer digitalen öffentlichen Universalbibliothek nicht aufgeben. Schließlich sind die Bücher, die noch immer im Druck sind, aller Wahrscheinlichkeit nach jene mit den aktuellsten Informationen und zudem das, was die Menschen am meisten lesen wollen.

Viele europäische Länder, aber auch Australien, Kanada, Israel und Neuseeland haben Gesetze verabschiedet, die ein „öffentliches Ausleihrecht“ begründen, d.h. der Staat erkennt an, dass es ein öffentliches Gut darstellt, hunderte von Menschen ein einziges Buch lesen zu lassen, aber dass dies zugleich den Buchabsatz reduzieren dürfte. Man könnte der öffentlichen Universalbibliothek gestatten, sogar Werke, die noch im Druck sind und deren Urheberrecht noch nicht abgelaufen ist, zu digitalisieren – im Austausch gegen an die Verlage und Autoren gezahlte Gebühren, die auf der Häufigkeit, mit der die digitale Version gelesen wird, beruhen.

Wenn wir einen Menschen auf den Mond schicken und das menschliche Genom entziffern können, sollten wir doch wohl imstande sein, so etwas wie eine Universalbibliothek zu konzipieren. An dem Punkt dann werden wir allerdings vor einer anderen moralischen Verpflichtung stehen, die zu erfüllen sogar noch schwieriger sein wird: die Ausweitung des Internetzugangs über die nicht mal 30% der Weltbevölkerung hinaus, die heute einen haben.

https://prosyn.org/iqOfbaJde