04d5100346f86f680e570f05_dr2369c.jpg Dean Rohrer

Demokratische Abenddämmerung in der Türkei

CAMBRIDGE, MASS.: Als man ihn kürzlich nach einer Professorin für Verfassungsrecht fragte, die verhaftet wurde, weil sie an einem von der wichtigsten prokurdischen Partei des Landes betriebenen Institut Vorträge gehalten hatte, konnte der türkische Innenminister Idris Naim Sahin seine Irritation nicht verbergen: „Es fällt mir schwer, jene zu verstehen, die sagen, eine Professorin sollte nicht verhaftet werden, während gleichzeitig tausende anderer Menschen in der Türkei verhaftet werden.“

Was Sahin vermutlich sagen wollte, war, dass eine Professorin vor dem Gesetz keinen Anspruch auf eine Sonderbehandlung hat. Doch unterstrich er mit seiner Bemerkung unbeabsichtigt die neue türkische Realität, in der jeder mutmaßliche Gegner des derzeitigen Regimes – egal, ob Beweise gegen ihn vorliegen oder nicht – unter dem Vorwurf des Terrorismus oder anderer Gewalttaten ins Gefängnis gesteckt werden kann.

Die mit der strafrechtlichen Verfolgung von Terrorismus und Verbrechen gegen den Staat betrauten Sondergerichte machen derzeit Überstunden, um Anklagen zu produzieren, die häufig genauso absurd wie unbegründet sind. So wurden etwa Journalisten inhaftiert, weil sie Artikel und Bücher im Auftrag einer angeblichen terroristischen Organisation namens „Ergenekon“ verfasst hätten, deren Existenz trotz jahrelanger Ermittlungen noch immer nicht nachgewiesen werden konnte.

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