james214_Sean RayfordGetty Images_trump Sean Rayford/Getty Images

Politik der Verzweiflung

BERLIN – Die öffentliche Meinung über die Welt von heute ist seltsam divergent. Große Industrieländer, einschließlich China, sind von einer allgemeinen Stimmung der Angst und des Zweifels erfasst worden, auch wenn viele Menschen zu Recht vermuten, dass es ihnen selbst gut geht (nur „allen anderen“ geht es schlecht). Die Märkte erreichen neue Höchststände, während die politische Stimmung und die der Anleger eine gegenläufige Entwicklung nehmen. Die Politik ist von Pessimismus durchdrungen, während die Wirtschaft vor Energie strotzt.

Seit 30 Jahren prägt das berühmte Mantra des amerikanischen Politikberaters James Carville „It's the economy, stupid“ unser Verständnis von Politik, vor allem in Wahljahren. Doch diese Weisheit hat ihr Verfallsdatum längst überschritten. Die Politik reagiert schon lange nicht mehr auf das, was in der realen Welt passiert, auch nicht auf die Wirtschaft.

Beginnen wir mit den Vereinigten Staaten, wo es anscheinend auf eine Neuauflage des Wahlkampfs 2020 zwischen Joe Biden und Donald Trump hinausläuft. Zwei alte Männer, die vier Jahre älter sind als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen, werden die Sache im November erneut hinter sich bringen. Auch Frankreich wappnet sich für eine weitere Kandidatur der rechtsextremen Populistin Marine Le Pen für die Präsidentschaft.

In Deutschland, wo sich die Zufriedenheit mit der Regierungskoalition (die von den Sozialdemokraten in Zusammenarbeit mit den Grünen und den Freien Demokraten geführt wird) Meinungsumfragen auf einem Tiefpunkt befindet, ist die rechtsextreme Alternative für Deutschland zur zweitstärksten Partei des Landes aufgestiegen, was darauf hindeutet, dass sie ein fester Bestandteil der politischen Landschaft bleiben wird. Populistische Parteien haben kürzlich in den Niederlanden und in der Slowakei große Erfolge erzielt. Im Vereinigten Königreich rechnet nun jeder damit, dass die Labour Party (unter einer gemäßigteren Führung) die nächsten Wahlen gewinnen wird; dennoch ist es offensichtlich, dass eine neue Regierung eine schwache Wirtschaft und ein gespaltenes Gemeinwesen erben wird.

Der wichtigste Influencer in Sachen Verzweiflung ist Donald Trump. Er und seine europäischen Bewunderer und Gefolgsleute erfinden eine fesselnde Geschichte von Elend und Angst. Trumps Erzählung zufolge ist Amerika „ein Land im Niedergang, ein Land in Schwierigkeiten, offen gesagt eine scheiternde Nation“. Derart schlichte Äußerungen mit ihrer bewusst einfach gehaltenen und verstümmelten Sprache erwecken den Anschein von Authentizität. Dasselbe gilt für Trumps Kritik an Nikki Haley mit ihrer bizarren Großschreibung und solipsistischen Grammatik: „Her False Statements, Derogatory Comments, and Humiliating Public Loss, is demeaning to True American Patriots.“ („Ihre Falschen Aussagen, Abfälligen Kommentare und Schmachvolle Öffentliche Niederlage sind für Echte Amerikanische Patrioten erniedrigend.“

Betrachten wir nun das wirtschaftliche Gesamtbild, das in krassem Gegensatz zu diesen düsteren politischen Einschätzungen steht. Die technologische Innovation treibt den Fortschritt schneller und deutlicher voran als je zuvor in den vergangenen 50 Jahren.

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Lange Zeit rätselten Wirtschaftswissenschaftler über das von Robert Gordon von der Northwestern University erforschte Paradoxon, dass die Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) zwar etwas hermachte, aber nicht zu Produktivitätssteigerungen in der Größenordnung früherer Technologien wie der Elektrizität führte. Die Schlussfolgerung war, dass die digitale Technologie lediglich zeitraubende Unterhaltung bot – dass Millionen von Büroangestellten ihre Stunden mit Solitaire und Minesweeper (zwei Spiele, die in den 1990er Jahren auf den meisten PCs vorinstalliert waren) vergeudeten.

Das trifft nicht mehr zu. Die heutigen IKT – vor allem die Künstliche Intelligenz – können zunehmend grundlegende Probleme lösen, auch solche, die in den vergangenen vier Jahrzehnten die Frustration der Mittelschicht geschürt haben. Ist das Wohnen in den Städten zu teuer? Dank Homeoffice muss man nicht mehr in einem großen Ballungsgebiet wohnen, um für ein großes Unternehmen zu arbeiten. Ist Bildung teuer und schwer zugänglich? Dank kostenloser Online-Kurse – wie sie unter anderem von der Khan Academy angeboten werden – kann man sich vielfältiges Wissen online aneignen. Ist die Gesundheitsversorgung zu teuer, unzugänglich und aufdringlich (durch unnötige Tests)? KI wird all das besser machen.

Viele dieser technischen Neuerungen sind wirklich schockierend. Sie werden mit Sicherheit eine große Zahl von Arbeitnehmern verdrängen, die ihr Einkommen durch vormals knappe Güter bezogen haben. Doch sie werden auch Ressourcen freisetzen und es vielen Menschen ermöglichen, ein sinnvolleres Leben zu führen als das, was sinnlose „Bullshit-Jobs“ wie sie der verstorbene Anthropologe David Graeber genannt hat, gegenwärtig zu bieten haben.

In früheren Zeiten der Unsicherheit, etwa in den inflationären 1970er Jahren, schossen die Sparquoten – paradoxerweise – in die Höhe, während die Inflation die vorhandenen Ersparnisse aufzehrte. Doch jetzt sinken die Sparquoten, vor allem in den USA, schnell von ihren pandemischen Höchstständen und unter das Niveau der 2010er Jahre. Stellt dieser Trend einen Vertrauensbeweis für die Zukunft dar oder ist er ein Zeichen für Fatalismus?

Mit dieser neuen Ära technologischer Durchbrüche und neuartiger Möglichkeiten geht die Notwendigkeit eines neuen Fahrplans einher, der Orientierung in Bezug auf die persönlichen Erwartungen und das Verhalten bietet. Wie immer hält die Geschichte Lehren bereit. Es hat schon immer Menschen gegeben, die die Überzeugungen der Öffentlichkeit transformiert haben, und zwar auf ganz andere Weise als moderne Influencer wie Trump.

Buddha hat all die komplexen priesterlichen Hierarchien unumwunden infrage gestellt und mächtig durcheinandergebracht. Figuren wie Franz von Assisi, Katharina von Siena und Bernadette Soubirous hatten alle eine starke persönliche Anziehungskraft, die durch ihr Leiden noch verstärkt wurde. Sie lehnten sich gegen das Establishment und seine Orthodoxien auf. Sie halfen Menschen, die Möglichkeit eines sinnvollen individuellen Handelns zu erkennen. Sie haben eher gezeigt als erklärt. Am Ende, aber erst nachdem sie das Leben einer großen Zahl von Menschen revolutioniert hatten, reagierten die Institutionen ihrer Gesellschaften.

Diese Abfolge ist das Gegenteil des modernen Influencers, der lediglich darauf abzielt, Nachahmung und Imitationsverhalten zu vermarkten. Trump ist nicht kraft eines von ihm vertretenen Wertes einflussreich, sondern weil er eine kurzlebige Zeiterscheinung aufgegriffen hat. Der flüchtige Charakter eines solchen Einflusses ist seine Quintessenz.

Heilige waren transformativ, weil sie in einem längerfristigen – ja, ewigen – Kontext dachten und handelten. Sie linderten Angst und Misstrauen, indem sie die Besessenheit vom unmittelbaren Augenblick auflösten. Moderne Spieltheoretiker würden die Wirksamkeit dieses Ansatzes erkennen, da er auf Wiederholung setzt, um Perspektiven in einen neuen Rahmen zu setzen. Wir müssen die Fähigkeit zurückgewinnen, über das Kurzfristige hinauszublicken, wenn wir aus dem heutigen Pfuhl der Verzweiflung herauskommen wollen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/1bjhKoyde