Die USA verlieren Lateinamerika

Wann werden sich die Vereinigten Staaten der Realität in Lateinamerika stellen? Der wachsende Einfluss des linksgerichteten venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez wirft einen dunklen Schatten auf die gesamte Region. Manche Länder – wie beispielsweise Chile, Kolumbien und Costa Rica – verfolgen weiterhin eine fortschrittliche, wachstumsorientierte und demokratische Politik. Allerdings sind im letzten Jahr in Ländern wie Ecuador und Bolivien Verbündete von Chávez an die Macht gekommen oder haben in anderen Ländern die Machtübernahme nur knapp verpasst. In Mexiko hätte der Chávez-Bewunderer Andrés Manuel López Obrador die Präsidentschaft vielleicht lebenslang an sich gerissen, wenn es ihm gelungen wäre, nur ein Viertel Prozent mehr Wähler für sich zu gewinnen.

Nachdem man fast überall auf der Welt erfolgreich flexible, marktorientierte Ökonomien anstrebt, bleibt die Frage, warum Lateinamerika sich so gefährlich in die andere Richtung entwickelt? Liegt es daran, dass manche Wähler nicht erkennen, dass die Region heute wirtschaftlich stabiler dasteht als in vergangenen Jahrzehnten? Wissen es die Menschen nicht zu schätzen, dass die Inflationsrate heute im einstelligen Bereich liegt und nicht mehr bei durchschnittlich 300 % wie es in der Region noch vor zwölf Jahren der Fall war?

Zum Glück schätzen wenigstens die Hälfte der Wähler diese Verbesserungen, andernfalls wäre die Situation noch weit schlimmer. Dennoch führt eine wachsende Kluft zwischen links und rechts zu einem Besorgnis erregendem Grad an politischer Lähmung.

Diese Entwicklung ist nirgends offenkundiger als in Mexiko, der nach Brasilien zweitgrößten Volkswirtschaft in der Region. Trotz seiner beneidenswerten Lage in unmittelbarer Nachbarschaft zu den reichen und boomenden Vereinigten Staaten entwickelte sich das Wachstum Mexikos seit der Wirtschaftskrise vor zehn Jahren dürftig bis mittelprächtig. Warum hat Mexiko nicht mehr vom Nordamerikanischen Freihandelsabkommen aus dem Jahr 1992 profitiert?

Teilweise liegt der Grund dafür im Aufstieg Chinas, dessen ultraniedrige Löhne eine harte Konkurrenz für Mexiko darstellen, wo die Löhne nur sehr niedrig sind. Das wahre Hindernis in Mexiko ist allerdings ein politisches System, in dem es unmöglich ist, irgendeinen Konsens im Bereich dringend nötiger Wirtschaftsreformen zu finden.

Der neue Präsident Felipe Calderón hat von der Notwendigkeit gesprochen, die Monopole zu zerschlagen. Aber wo soll er anfangen – bei Telefonen oder Tortillas? Es gibt einfach zu viele dieser Monopole.

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In einer Art versteckter Arbeitslosigkeit, wie man sie aus den ländlichen Gebieten Chinas kennt, schuften Kleinbauern völlig ineffizient auf winzigen Ackerflächen. Die staatliche Ölgesellschaft, die für ein Gutteil der staatlichen Einkünfte sorgt, arbeitet extrem ineffizient und investiert viel zu wenig in neue Anlagen und Technologie. Die Kriminalität nimmt überhand. Internationale Korruptionsstatistiken sind für Mexiko wenig schmeichelhaft. Und am schlimmsten ist, dass der Wahlverlierer López Obrador anscheinend lieber Unruhen in Kauf nimmt als die verfassungsmäßige Legitimität seiner Niederlage einzugestehen.

Wie wollen die USA nun auf diese Entwicklungen reagieren? Indem sie den Plan weiterverfolgen, eine über 3000 Kilometer lange Mauer an ihrer Südgrenze zu errichten.

Unterdessen hat Brasilien durchaus beachtenswerte politische und makroökonomische Stabilität erreicht. Wenn Brasilien allerdings sein Wachstum über das bescheidene Ausmaß der letzten Jahre anheben möchte, muss es endlich die dazu unbedingt nötigen Reformen des Arbeitsrechts durchsetzen, sich vermehrt dem Außenhandel öffnen und die Qualität seines Grundschulsystems verbessern.

Nachdem in den zwei größten Ökonomien Lateinamerikas Reformen nur schleppend vorankommen, ist es auch für erfolgreiche Länder wie Chile viel schwieriger, jene Fluchtgeschwindigkeit zu erreichen, die nötig ist, um in einen Orbit nachhaltigen Wirtschaftswachstums zu gelangen.

Freilich ist sogar das schwache Wachstum der letzten Jahre die beste Wirtschaftsleistung Lateinamerikas seit den 1970er Jahren und die Einkommen holen im Vergleich zu den USA, Europa und Japan langsam auf. Dennoch bleibt Lateinamerika in der sich entwickelnden Welt die Region mit dem langsamsten Wachstum. Nicht nur China und Indien sondern auch Zentraleuropa, Zentralasien und der krisengeschüttelte Mittlere Osten wachsen rascher. Sogar Afrika südlich der Sahara mit all seinen Kriegen und Hungersnöten hatte in den letzten Jahren ein schnelleres Wachstum zu verzeichnen.

Bietet nun der Volksverführer in Venezuela einen gerechteren und besseren Weg zu wirtschaftlichem Wachstum? Leider nein. Venezuela profitiert lediglich im Windschatten Chinas von den hohen Ölpreisen. Wenn die Ölpreise zusammenbrechen, und das werden sie irgendwann in den nächsten Jahren, dann bricht auch Venezuelas Wirtschaft zusammen. Langfristig müssen nämlich Rohstoffexporteure genauso innovativ sein wie Güterproduzenten, um die Rentabilität ihrer Betriebe zu erhalten. Nachdem die Ölproduktion Venezuelas noch immer weit unter dem Niveau zum Zeitpunkt der Amtsübernahme von Chávez liegt, herrscht wenig Zweifel am Ausgang dieser Geschichte.

In der hyperkompetitiven Weltwirtschaft von heute gibt es keinen zuverlässigen „dritten Weg“, der es Ländern erlauben würde, fortgesetzte Liberalisierung und marktorientierte Reformen zu vermeiden. Es ist nur allzu wahrscheinlich, dass die momentane Phase des lateinamerikanischen Sozialismus zu einer Wiederauflage tragischer Episoden aus der Vergangenheit führt.

In diesem Zusammenhang ist die unerklärliche Indifferenz der USA gegenüber der Region sowohl naiv als auch gefährlich. Der neuerdings demokratisch dominierte US-Kongress hat signalisiert, dass Freihandelsabkommen mit Peru und Kolumbien „neu verhandelt“ werden müssen. Welche Botschaft wird damit an die paar verbliebenen Verbündeten der USA in der Region gesendet? Wenn die Amerikaner sich nicht um ihre Freunde in Lateinamerika kümmern, könnte es eine Generation dauern, den dadurch entstandenen Schaden zu beheben.

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