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Der unaufhaltsame Aufstieg des „Rests"

HONGKONG – Werden die Vereinigten Staaten in der neuen Weltordnung an dritter Stelle stehen? So argumentiert der ehemalige Journalist Hugh Peyman in seinem neu erscheinenden Buch: Chinas Wirtschaft habe diejenige der USA in mancherlei Hinsicht bereits überholt, und bis Mitte des Jahrhunderts werde dies auch Indien gelingen. Außerdem meint er, „der Rest“ (die anderen Länder) werde den Westen immer stärker herausfordern – und der Westen werde diese Länder weiterhin unterschätzen.

Peyman ist natürlich nicht der erste, der den Aufstieg von Ländern vorhersagt, die nicht dem geopolitischen Westen (einschließlich Japan) angehören. Bereits 2007 wusste der britische Ökonom Angus Maddison, dass Chinas BIP dasjenige der USA (kaufkraftbereinigt zu Dollarpreisen von 1990) bald überholen und Indien an die dritte Stelle aufrücken würde. Und die OECD schätzt, Indien werde die USA beim BIP bis 2050 überholen, und das gemeinsame BIP von China, Indien und Indonesien werde bis 2060 116,7 Billionen Dollar (49% der weltweiten Summe) betragen, was dem Dreifachen der US-Wirtschaft entspricht.

Dies käme nicht wirklich überraschend – insbesondere, weil in den nichtwestlichen Ländern viel mehr Menschen leben. Wie Peyman betont, haben China und Indien jeweils viermal so viel Einwohner wie die USA, also selbst wenn sie nur ein Viertel des amerikanischen Pro-Kopf-Einkommens erwirtschaften, wäre ihr gemeinsames BIP doppelt so groß wie das der USA. Wie er es ausdrückt: „Die Bevölkerungszahl bestimmt, dass der Westen nur 10% und der Rest 90% ist.“

Sicherlich hat der Westen hinsichtlich seines BIP bereits häufiger oberhalb seiner Gewichtsklasse gekämpft. 1950 lebten dort (einschließlich Japan) nur 22,4% der Weltbevölkerung, aber es wurden 59,9% des weltweiten BIP erwirtschaftet. In Asien (ohne Japan) war dieser Wert nur 15,4%, obwohl dort 51,4% der Weltbevölkerung lebten.

Diese Diskrepanz kann unter anderem auf die Industrielle Revolution zurückgeführt werden, die dem Westen (gemeinsam mit der kolonialen Ausbeutung) erhebliche wirtschaftliche Vorteile verschafft hatte. 1820 war das Verhältnis noch viel ausgeglichener: Auf Asien (ohne Japan) fielen damals 65,2% der Weltbevölkerung und 56,4% des globalen BIP.

Mitte dieses Jahrhunderts wird allerdings die Bevölkerung des „Rests“ 3,8-mal größer sein als diejenige des Westens (einschließlich Japan), und sein BIP wird 1,7-mal höher sein. Wie Peyman bemerkt, haben zunehmende Investitionen in diese restlichen Länder – nicht zuletzt im Ausbildungsbereich – eine wichtige Rolle dabei gespielt, die Produktivität zu steigern sowie die Produktion und das Einkommen auf globaler Ebene zu fördern.

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Und solche Investitionen werden sich weiterhin lohnen. Das McKinsey Global Institute hat letztes Jahr prognostiziert, in der neuen multipolaren Weltordnung könnte die „Technologie in den Vordergrund des geopolitischen Wettbewerbs“ rücken. Angesichts dessen, dass das Humankapital – gemeinsam mit der Governance – entscheidend dazu beiträgt, technologische Fortschritte in Produktivitätswachstum zu verwandeln, hat Asien einen Vorteil: Bis 2030 werden über 70% der Absolventen der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) in den gesamten G20-Ländern auf diesem Kontinent leben. Allein in China werden es 35% sein, und in Indien 27%.

Außerdem mag „der Rest“ bei den innovativsten Forschungsbereichen zwar im Rückstand liegen, aber er hat gezeigt, dass er mithilfe westlicher Innovationen Waren und Dienstleistungen für Endbenutzer produzieren kann. Peyman hat selbst in chinesischen Städten gelebt und chinesische Firmen untersucht. Diese Erfahrungen bringt er in seine Beschreibung des chinesischen Übergang zur Modernität ein – eines Wandels, der in unterschiedlichem Maße auch in den anderen „restlichen“ Ländern stattfindet. Für jede Warnung, China werde unter dem Gewicht einer schnell alternden Bevölkerung, überbordendem Autoritarismus, einem massiven Schuldenüberhang und langsamem Wachstum zusammenbrechen, gibt Peyman in seinem Buch ein Gegenbeispiel, wie das Land seine Größe, sein Unternehmertum und seine Innovationen erfolgreich dazu nutzt, seine Ziele und Interessen zu erreichen.

Leider, so beklagt sich Peyman, sind die USA immer noch „von ihrer Vormachtstellung geblendet“, was sie „ihren Machtverlust nur langsam erkennen“ lässt. Tatsächlich scheinen die meisten Westler davon auszugehen, der „Rest“ sei in seiner Vielfalt so unterschiedlich, dass er die Länder, die die Weltordnung lang dominiert haben, nicht wirklich langfristig herausfordern könnte.

Aber Länder wie China, Indien, Indonesien, Singapur oder Südkorea haben bereits bewiesen, dass sie, wenn sie die Möglichkeit bekommen, hinsichtlich der Produktion, des Exports, der Infrastrukturinvestitionen und der Governance mindestens so kompetent sind wie viele ihrer westlichen Konkurrenten. Einige der größten Unternehmen im Westen werden von indischen Managern geführt. Und viele westliche Länder sind bei ihrem Versuch, „soziale Harmonie, allgemeinen Wohlstand und öffentliche Gesundheit zu Hause“ zu erreichen, gescheitert.

Selbst wenn der Westen erkennt, dass er immer schwächer wird, wird der Anpassungsprozess laut Peyman nicht leicht sein. Angesichts dessen, dass die überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung in anderen Ländern lebt, werden diese ihren „Ausschluss von der globalen Entscheidungsfindung“ nicht mehr länger akzeptieren. „Der Rest“ will den Westen dabei nicht explizit ausschließen, aber er will sich entscheidend daran beteiligen, die – vom Westen aufgestellten – globalen Spielregeln für das einundzwanzigste Jahrhundert zu ändern.

Zum Schluss drängt Peyman US-Präsident Joe Biden und den chinesischen Präsidenten Xi Jinping (die Anführer des Westens und der „Restländer“), zu einer „großen Übereinkunft“ zu kommen – ähnlich der von Richard Nixon und Mao Zedong Anfang der 1970er. Eine solche Übereinkunft würde die Zusammenarbeit bei den großen Problemen unserer Zeit – wie in erster Linie dem Klimawandel – verbessern und gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit verheerender Konflikte verringern.

Aber eine Übereinkunft muss es auch zwischen den Staaten, deren Macht wächst, und den Marktkräften geben, die immer schwächer werden. Finden auf unilateraler Basis plötzlich politische Veränderungen wie die Einführung oder Verschärfung von Sanktionen statt, wird dadurch die Geschäftstätigkeit von Privatunternehmen gestört und ihre Profitabilität untergraben. Um inmitten geopolitischer Spannungen die wirtschaftliche Dynamik beizubehalten, müssen die Regeln für Handel und Investitionen des privaten Sektors geklärt und respektiert werden – einschließlich der „roten Linien“ im Bereich der nationalen Sicherheit. Das Land, das solche Regeln bereitstellen kann, wird die neue Weltordnung prägen, auch wenn es hinsichtlich BIP oder Bevölkerungszahl nicht das größte ist.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/WJiADiyde