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Der Sirenengesang großer Geschichte

MÜNCHEN – Hinter der heutigen globalen Unordnung stehen zwei miteinander verbundene Narrative über die relativen Stärken und Schwächen der Länder im Wettbewerb um die Weltmacht. Die eine handelt vom langfristigen Aufstieg und Fall von Nationen und Zivilisationen, die andere von sehr viel kürzeren Zyklen.

Aus westlicher Sicht wird China aufgrund seiner außerordentlichen Stärke als Bedrohung wahrgenommen, während die zweite Sichtweise China aufgrund seiner inhärenten Schwäche als Bedrohung darstellt. Gleichzeitig wird Amerika von der chinesischen Führung als Bedrohung angesehen, weil es strukturell schwach ist und von einer gerontokratischen politischen Elite beherrscht wird, aber auch, weil es nach wie vor außerordentlich mächtig und entschlossen ist, jeden Rivalen in naher Zukunft auszuschalten. Wie der chinesische Handelsminister Wang Wentao kürzlich im Namen von Präsident Xi Jinping sagte: „Ein Land, das davon besessen ist, seine Hegemonie aufrechtzuerhalten, hat keine Mühen gescheut, um die Schwellen- und Entwicklungsländer zu schwächen.“

Der erste Blick in die Zukunft erfolgt durch die einfache – und daher scheinbar zwingende – analytische Linse der Geopolitik. Geopolitiker entwerfen langfristige Szenarien von Aufstieg und Fall. Ihre Handlungsstränge sind immer klar: Ein Land dominiert die Welt für ein Jahrhundert oder so, bevor es eine Umkehrung erfährt, weil es erschöpft und diskreditiert ist.

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