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Die Rückkehr des kranken Mannes am Bosporus

BERLIN – Das europäische 19. Jahrhundert hindurch war die sogenannte „orientalische“ Frage, d. h. die rapide voranschreitende Auflösung des osmanischen Reiches, jenes damals so genannten „kranken Mannes am Bosporus“, und wer von den großen europäischen Mächten seine Erbfolge antreten würde, eine der großen geo- und machtpolitischen Fragen der Zeit. Es kam nicht von ungefähr, dass die Selbstentleibung Alteuropas im Ersten Weltkrieg vom Balkan ausging, jener geopolitischen Bruchzone dreier großer, allesamt dem historischen Untergang entgegen treibenden Imperien – dem osmanischen Reich, Österreich-Ungarn und dem Russischen Kaiserreich.

Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg verschwanden die Osmanen, gemeinsam mit den beiden anderen multinationalen Reichen. Die Türkei wurde zur Republik, unter General Mustafa Kemal zog sich die geschlagene türkische Armee auf Anatolien zurück, wehrte dort militärisch erfolgreich  eine griechisch Intervention und eine Akzeptanz der Pariser Vorortverträge (Vertrag von Sèvres) ab . Mustafa Kemals Ziel war es, die Türkei zu einem laizistischen, modernen, westlichen Staat zu machen, zu einem Teil Europas und nicht des Nahen und Mittleren Ostens. Um dieses historische Ziel zu erreichen, bediente er sich autoritärer Mittel, schuf einen hybriden Staat, eine Mischung aus faktischer Militärherrschaft und formaler Demokratie mit Parteien. In zyklisch wiederkehrenden großen Krisen der türkischen Demokratie wurde diese mehrfach durch temporäre Militärdiktaturen abgelöst.

Hinzu kam nach 1947 der Kalte Krieg zwischen Ost und West, der die Türkei zu einem geopolitisch unverzichtbaren Bündnispartner des Westens machte, der die Meerengen zwischen Mittel- und Schwarzem Meer und das östliche Mittelmeer, die Südflanke der NATO, vor dem Zugriff der Sowjetunion schützte.

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