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Brot ist mächtiger als eine Mauer

NEW ORLEANS – Das Wort „Migration” ruft Bilder von Kriegen, Naturkatastrophen und bitterer wirtschaftlicher Not hervor. Allesamt triftige Gründe für Menschen, weit weg von zu Hause Zuflucht zu suchen. Die stärkste Triebkraft für Migration könnte jedoch Nahrung sein – oder vielmehr der Nahrungsmangel.

Im Jahr 2017 waren etwa 821 Millionen Menschen weltweit – also ungefähr jeder neunte – mit chronischem Nahrungsentzug konfrontiert. Obwohl man bei der Verringerung des extremen Hungers einige Fortschritte erzielte, steigt die Gesamtzahl der unter chronischem Hunger leidenden Menschen weiter an.

Der Zusammenhang mit Migration liegt klar auf der Hand. Wenn Menschen in Afrika, im Nahen Osten und in Lateinamerika sich und ihre Familien nicht ernähren können, verlassen sie oftmals ihre Heimat. Laut einer Studie des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WEP), lässt jede Steigerung der Ernährungsunsicherheit um einen Prozentpunkt die Flüchtlingsströme um 1,9 Prozent anschwellen.  

Wer von Ernährungsunsicherheit betroffen ist, fordert oftmals bessere Bedingungen im eigenen Land ein. In der arabischen Welt kommt es seit Mitte der 1980er Jahre regelmäßig zu „Brotaufständen“. Steigende Lebensmittelpreise, insbesondere für Weizen, lösten im Jahr 2010 in Tunesien die Proteste des Arabischen Frühlings aus.

Wenn die ursprüngliche Nahrungsmittelknappheit noch keinen ausreichenden Grund darstellt, eine Person zur Migration zu bewegen, dann sind es meist die darauf folgenden Unruhen und Konflikte, nicht zuletzt deshalb, weil diese die Nahrungsmittelversorgung weiter belasten. Wie das WEP feststellt, ist Ernährungsunsicherheit „ein wesentlicher Faktor für das Auftreten und die Intensität bewaffneter Konflikte.“ Mit jedem zusätzlichen Konfliktjahr steigen die Flüchtlingsströme um 0,4 Prozent.

Laut Angaben des Observatory on Food and Migration handelt es sich bei vielen Migranten um alleinstehende Männer, die ihre weiblichen Verwandten zurücklassen, damit diese die maroden Höfe weiter bewirtschaften. Nach Angaben der Weltbank liegt der Anteil der Landwirtinnen in Nordafrika mittlerweile bei 43 Prozent– verglichen mit 30 Prozent im Jahr 1980.

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Diese Frauen haben mit gravierender Benachteiligung zu kämpfen. So berichtet die Weltbank beispielsweise über die Verhältnisse in Lateinamerika: „Wenn Frauen die Hauptverantwortung für einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb übernehmen, sind sie mit bestimmten geschlechtsspezifischen Problemen konfrontiert, wie etwa Schwierigkeiten bei der Einstellung und Beaufsichtigung von Arbeitskräften und auch wenn es darum geht, sich das für die Landwirtschaft notwendige technische Know-how anzueignen.“ 

Ähnlich präsentiert sich die Situation im Senegal, wo Frauen zwar 70 Prozent der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft stellen, aber laut Berichten des Observatory on Food and Migration nur Männer Entscheidungen über die landwirtschaftliche Produktion oder betriebliche Fragen treffen dürfen. Dadurch wird es extrem schwierig, eine ausreichende Produktion sicherzustellen, wodurch sich die Nahrungsmittelknappheit noch verschärft.

Migranten, die es nach Europa oder in die USA schaffen, bilden häufig das Rückgrat der landwirtschaftlichen Sektoren in ihren neuen Ländern. Laut einer Studie der Denkfabrik MacroGeo und des Barilla Center for Food and Nutrition (BCFN) handelt es sich bei über der Hälfte aller Landarbeiter in Süditalien um Migranten. Und über drei Millionen Migranten arbeiten auf amerikanischen Farmen. Die US-Regierung schätzt, dass etwa die Hälfte aller dieser landwirtschaftlichen Arbeiter undokumentierte Einwanderer sind.

Viele dieser Arbeiter leben unter Sklaverei-ähnlichen Zuständen und schuften unter harten Bedingungen für kärgliche Löhne. In Süditalien beispielsweise werden zugewanderte Landarbeiter oftmals mittels des so genannten Caporalato-Systems angeworben, im Rahmen dessen kriminelle – von einem „Caporali“ angeführte – Banden zugewanderte Arbeiter in Gruppen organisieren, ihnen Essen und Unterkunft zur Verfügung stellen und sie (zu exorbitanten Fuhrlöhnen) von ihren Behausungen auf die Felder transportieren.

Die Arbeitstage der Landarbeiter können 16 Stunden dauern und wenn sie mit ihren mickrigen Löhnen in der Tasche in ihre Unterkünfte zurückkehren, sehen sie sich mit entsetzlichen Lebensbedingungen konfrontiert. In einem belegten Fall mussten sich 800 Arbeiter fünf Duschen teilen.

Da die Gebühren für den Caporali von den Löhnen der Arbeiter abgezogen werden, nutzen die Landwirte dieses System, das es ihnen auch ermöglicht, Lohnsteuern zu vermeiden. Und genau diese Landwirte - nicht nur in Italien, sondern in ganz Europa und in den USA (wo undokumentierte Landarbeiter auf ähnliche Weise ausgebeutet werden) - profitieren vielfach bereits von großzügigen Subventionen, die ihnen einen Anreiz bieten, zu viele Lebensmittel zu produzieren.

Die überschüssigen Lebensmittel werden möglicherweise zu so niedrigen Preisen exportiert, dass  Landwirte und Lebensmittelproduzenten in Entwicklungsländern nicht mithalten können. Oder sie werden vernichtet: Nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen geht ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel verloren oder wird weggeworfen. Dabei handelt es sich um einen groben Missbrauch jener Ressourcen – von der Arbeitskraft bis zu Wasser – die zu ihrer Produktion eingesetzt werden. 

Laut des von der BCFN und der Economist Intelligence Unit erstellten Food Sustainability Index handelt es sich bei den schlimmsten Missetätern in dieser Hinsicht um die technologisch am weitesten fortgeschrittenen Länder. In den Rankings zu landwirtschaftlicher Nachhaltigkeit – in denen auch Lebensmittelverschwendung berücksichtigt wird - rangieren die USA und das Vereinigte Königreich unter 67 Ländern auf dem 45. bzw. 49. Platz.

Im Gegensatz dazu warten weniger entwickelte Länder mit einigen überraschenden Erfolgen auf. Lateinamerika, Ostasien und die Pazifik-Region schneiden hinsichtlich Verlust und Vernichtung von Lebensmitteln gut ab, wobei vier Länder aus jeder Region unter den Top 20 rangieren. Äthiopien, Kenia und Indien gehören ebenfalls zu den Ländern mit wirksamen Strategien zur Minimierung des Lebensmittelverlusts.

Eine so komplexe Herausforderung wie die Migration kann nicht einfach durch strengere Einwanderungsgesetze bewältigt werden, geschweige denn durch eine Grenzmauer wie sie US-Präsident Donald Trump an der Südgrenze seines Landes mit Mexiko errichten will. Vielmehr müssen sich die politischen Entscheidungsträger den zugrunde liegenden Ursachen der Migration zuwenden - beginnend bei einem verfehlten globalen Nahrungsmittelsystem.

Für die Regierungen der Industrieländer heißt das, Agrarsubventionen zu überdenken und gezielte Maßnahmen zur Reduzierung von Verlusten und der Verschwendung von Lebensmitteln zu ergreifen. Die Regierungen der Entwicklungsländer müssen ihrerseits Schritte unternehmen, um die Ungleichheit der Geschlechter abzubauen.

Es gilt, keine Zeit – und keine Nahrungsmittel – zu verschwenden.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/ZSsDy5cde