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Israels Demokratiemüdigkeit

JERUSALEM – Wenn überhaupt ein westliches Land unter demokratischen Funktionsstörungen leidet, dann ist es Israel. Da die Politiker des Landes nach den jüngsten Parlamentswahlen im September erneut keine Regierung bilden konnten, werden die Wähler im März 2020 an die Wahlurnen zurückkehren – zum dritten Mal in weniger als einem Jahr. Aber was kann man angesichts der aufgeheizten und polarisierten Politik und dem hochgradig proportionalen Wahlsystem von den nächsten israelischen Wahlen schon anderes erwarten als eine weitere Sackgasse?

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sieht sich schon seit langem als israelischer Winston Churchill – als den letzten Retter eines Volkes, das angeblich von einem Holocaust durch die Atommacht Iran bedroht ist. Jetzt allerdings wäre er froh, es dem aktuellen britischen Premierminister Boris Johnson nachmachen zu können: mithilfe seiner entschlossenen Verlogenheit und dem Überdruss der Wähler eine klare parlamentarische Mehrheit zu erreichen.

Dabei hat Netanjahu immer noch ein paar Karten im Ärmel: Viele israelische Wähler russischer Abstammung träumen von einem „israelischen Putin“, also einem starken Führer mit autoritärem Temperament – und „Bibi“ ist dafür wahrscheinlich am besten geeignet. Aber tief im Inneren sind die meisten Israelis davon überzeugt, die Zeit nach Netanjahu habe bereits begonnen. Sie glauben, dass sich der Ministerpräsident nicht deshalb an die Macht klammert, um sein Volk zu retten, sondern um eine mögliche Haftstrafe für angebliche Korruptionsvergehen zu verhindern.

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