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Der Mythos der Beispiellosigkeit

NEW HAVEN: Ich bin seit mehr als 50 Jahren im Prognosegeschäft. Während dieser Zeit habe ich mir immer wieder anhören müssen, dass die Welt gerade „beispiellose Veränderungen“ durchmache. Dieser populäre Tropus zog dann häufig gleichermaßen übertriebene Zusätze nach sich: atemlose Behauptungen, dass wir noch nie mit größeren Risiken oder einer derart unsicheren Zukunft konfrontiert gewesen seien und dass Prognosen anzustellen noch nie so schwierig gewesen sei. Wenn man es oft genug hört, glaubt man es langsam selbst.

Ich muss an dieser Stelle ein Geständnis ablegen: Meine Kristallkugel hat so oft durch scheinbar beispiellose Entwicklungen Sprünge bekommen, dass ich nicht mehr mitzählen kann. Die 1970er Jahre waren ein Jahrzehnt außerordentlicher Turbulenzen: Auf die Ölkrise von 1973 folgten rasch die „große Inflation“ und eine Zeit der Stagflation, die den Boden für die erste scheinbar beispiellose Phase der Nachkriegszeit bereitete. Die folgende Desinflation der 1980er Jahre ermöglichte ein Zurückspulen des Horrorfilms der 1970er Jahre – und zwar bis weit in die 1990er Jahre hinein. Das endete mit der Asiatischen Finanzkrise, die eine anfangs als „erste Globalisierungskrise“ bezeichnete Phase einläutete.

Im Rückblick jedoch betrachten wir diese Episoden heute als bloße Vorbeben der späteren seismischen Erschütterungen. Die IT-Revolution und die Dot-com-Blase der späten 1990er und frühen 2000er Jahre gaben Hinweise auf die Vielzahl an auf den weltweiten Immobilienmärkten und bei vielen Finanzinstrumenten bestehenden Vermögensblasen – von Subprime-Hypotheken bis hin zu den breiteren Kreditflüssen und den Aktien. Als die Party dann vorbei war, befeuerte die resultierende grenz- und instrumentübergreifende Ansteckung die globale Finanzkrise von 2008-2009 – eine weitere außergewöhnliche Umbruchsituation in einer inzwischen krisengeplagten Welt.

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