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Warum „der Rest" den Westen ablehnt

LONDON – Während der Krieg im Gazastreifen nun schon den vierten Monat andauert, stehen viele Menschen im Nahen Osten und im Globalen Süden unter dem Eindruck der Grausamkeit der israelischen Militäraktion und der uneingeschränkten Unterstützung dieser Kampagne durch westliche Regierungen. Für diese Menschen ist dies ebenso sehr der Krieg des US-Präsidenten Joe Biden wie der des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, und die anhaltende Gleichgültigkeit gegenüber dem Ausmaß der Verwüstung hat erneut gezeigt, wie wenig arabische Menschenleben den westlichen Führern wert zu sein scheinen.

Wer den Kalten Krieg miterlebte und sah, wie westliche Mächte mit postkolonialen Staaten und deren Bevölkerungen umgegangen sind, kann die jüngsten Ereignisse nur allzu gut nachvollziehen. Wie ich in meinem neuen Buch What Really Went Wrong: The West and the Failure of Democracy in the Middle East darlege, haben die Vereinigten Staaten und andere westliche Länder – insbesondere das Vereinigte Königreich - fast ein Jahrhundert lang eine interventionistische, militaristische und antidemokratische Außenpolitik verfolgt, die die Interessen der Menschen im Nahen Osten weitgehend ignorierte. Historisch waren westliche Entscheidungen von dem Wunsch geleitet, den Kommunismus zurückzudrängen und die Vorherrschaft des liberalen Kapitalismus zu sichern.

Um diese beiden Ziele zu erreichen, stellten die USA die führenden Politiker des Nahen Ostens vor die Wahl einer Nullsummenlösung: Entweder sie schließen sich regionalen Verteidigungsbündnissen unter westlicher Führung an und öffnen ihre Wirtschaft für das globale Kapital, oder sie gelten fortan als Feind. Im Namen der Aufrechterhaltung der Stabilität und der Sicherung eines ununterbrochenen Flusses an billigem Öl schlossen die westlichen Mächte Teufelspakte mit den Autokraten des Nahen Ostens und trugen aktiv zum Niedergang der aufkeimenden demokratischen Bewegungen bei.

Als etwa Anfang der 1950er Jahre der liberale Demokrat Mohammed Mossadegh Premierminister des Iran wurde und die Ölförderung des Landes verstaatlichte, orchestrierten CIA und MI6 einen Putsch und ersetzten Mossadegh durch den Schah. Diese eigennützige Intervention brachte die demokratische Entwicklung des Irans zum Stillstand und bereitete den Boden für die Islamische Revolution des Jahres 1979, die das bis heute herrschende theokratische Regime begründete.

Ähnlich erging es in den 1950er Jahren auch Gamal Abdel Nasser, einem charismatischen, den USA positiv gesinnten Anführer, der Präsident von Ägypten wurde und zu dem Entschluss kam, dass es nicht im Interesse seines Landes sei, einem vom Westen geführten Verteidigungspakt beizutreten. In dem Bestreben, ihn zu demütigen und seinen Sturz zu erzwingen, kündigten Amerika und Großbritannien ihre Unterstützung für das Großprojekt des Assuan-Staudamms am Nil.  Am Ende dieser Entwicklung stand die Suez-Krise des Jahres 1956, die beinahe einen Weltkrieg ausgelöst hätte. Am Ende wurde der populärste Führer des bevölkerungsreichsten arabischen Staates zu einem erbitterten Feind des Westens.

Obwohl der Westen unter Führung der USA sicherlich auch in anderen Regionen rigoros vorgegangen ist, haben offizielle westliche Vertreter ihre neoimperiale Mission im Nahen Osten lange Zeit mit der Behauptung rationalisiert, die Kombination aus Islam und arabischer Kultur sei mit Demokratie unvereinbar. Implizit heißt das: für die vom Westen so geschätzte Stabilität sind brutale Machthaber unerlässlich.

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Die Lektion für die Machthaber war unmissverständlich: Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen werden ausgeblendet, solange Amerikas Befehle befolgt werden. Für die Menschen in der Region war die Lehre daraus ebenso klar: Ihr Leben und ihre Rechte zählen im Kalkül des Westens wenig - ungeachtet all seiner hochtrabenden Rhetorik über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Invasion und die jahrzehntelange Besetzung Afghanistans sowie des Iraks haben dies überdeutlich werden lassen.

Barack Obama war der erste US-Präsident, der einen anderen Ansatz in Aussicht stellte. In einer Rede an der US-Militärakademie in West Point im Jahr 2014 prangerte er Amerikas ständige Kriegsbereitschaft sowie dessen tendenzielle Haltung an, erst zu schießen und dann Fragen zu stellen. Amerikas kostspieligste Fehler in der Region seien nicht auf Zurückhaltung zurückzuführen, sondern auf die „Bereitschaft, sich in militärische Abenteuer zu stürzen, ohne die Folgen zu durchdenken – nämlich ohne internationale Unterstützung und Legitimität vorzugehen und ohne die Menschen in Amerika über die notwendigen Opfer aufzuklären.“  

Leider scheint Obamas nüchterne Sichtweise bei Biden auf taube Ohren zu stoßen, gehört er doch zu jener Generation in der amerikanischen Führung, die noch dem Kalten Krieg verhaftet ist. Bis letzten Oktober hatte Biden dem israelisch-palästinensischen Konflikt wenig Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet. Bereitwillig akzeptierte er den unhaltbaren Status quo des andauernden palästinensischen Leidens und konzentrierte sich stattdessen auf den Versuch, das Abraham-Abkommen auszuweiten. Dieses von der Trump-Administration vermittelte Abkommen zielte darauf ab, Israels Beziehungen zu arabischen Autokraten im Austausch für Sicherheitsunterstützung und Schutz zu normalisieren und damit das Bekenntnis der Region zu palästinensischer Eigenstaatlichkeit zu beenden.

Seit dem brutalen Angriff der Hamas am 7. Oktober - der den Aberwitz des Ansatzes von Biden und Netanjahu offenbarte - war weder Zurückhaltung noch das Bemühen zu erkennen, die Folgen des aktuellen Krieges zu durchdenken. Vielmehr haben Biden und seine europäischen Verbündeten Israels Generalangriff auf den Gazastreifen vorbehaltlos unterstützt. Selbst zu einem Zeitpunkt, da die Zahl der zivilen Todesopfer in beispielloser Weise ansteigt, die humanitäre Krise sich jeden Tag weiter verschärft und Regierungen auf der ganzen Welt einen Waffenstillstand fordern, zeigt Biden keine Bereitschaft zu intervenieren, um dem Blutvergießen ein Ende zu setzen.  

Unterdessen legen Scharmützel an der israelisch-libanesischen Grenze sowie US-geführte Luftschläge auf Huthi-Stellungen im Jemen und auf vom Iran unterstützte Milizen im Irak nahe, dass der Konflikt noch weiter eskalieren könnte. Amerika und Großbritannien werden allmählich wieder in die Region hineingesogen, wenn auch dieses Mal in vollem Bewusstsein der dort bestehenden Probleme. Biden behauptete, der Gegenentwurf zu Trump zu sein, aber wenn es um den Nahen Osten geht, passt kein Blatt Papier zwischen die beiden. Dort und in weiten Teilen des Globalen Südens wird Biden als lediglich ein weiterer amerikanischer Präsident in Erinnerung bleiben, der das Leben der arabischen Menschen abwertet und Demokratie predigt, während er Unterdrückung und Gewalt unterstützt.

Biden könnte die vorbehaltlose Unterstützung Netanjahus der letzten Monate allerdings schon bald bereuen. Als Experte für die Manipulation des politischen Prozesses in den USA hat Netanjahu kürzlich Bidens Unterstützung für die Gründung eines palästinensischen Staates eine Abfuhr erteilt und darauf bestanden, dass Israel die Sicherheitskontrolle „über das gesamte Gebiet westlich des Jordan” haben müsse. Diese Äußerung fiel zeitlich mit dem Beginn des US-Präsidentschaftswahlkampfs zusammen, wobei Trump Netanjahus bevorzugter Kandidat ist.

Selbst wenn Biden am Ende eine zweite Amtszeit erringen sollte, besteht die tragische Ironie darin, dass der Nahe Osten heute weniger stabil ist als jemals zuvor in seiner jüngeren Geschichte. Die Strategie des Westens ist kolossal gescheitert, und dieses Vermächtnis wird unsere Welt über sehr lange Zeit belasten.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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