strain20_Matthew WestMediaNews GroupBoston Herald via Getty Images_wages Matthew West/MediaNews Group/Boston Herald via Getty Images

Der Mythos vom einen Prozent

WASHINGTON, DC ‑ Seit Jahrzehnten ist der Anteil des obersten 1 % am Nationaleinkommen in den USA stark angestiegen. Die Einkommensungleichheit, die der ehemalige Präsident Barack Obama als „entscheidende Herausforderung unserer Zeit“ bezeichnete, ist zu einem wichtigen Thema in der amerikanischen Politik geworden, wobei sowohl Republikaner als auch Demokraten höhere Steuern für Reiche vorschlagen. Die von Nationalisten und Progressiven verbreitete Vorstellung, das Wirtschaftssystem sei zu Lasten der einfachen Arbeiter und Haushalte manipuliert, hat überdies den Populismus angeheizt. Manche behaupten sogar, dass die Demokratie durch wirtschaftliche Ungleichheit bedroht ist.

Dennoch könnte die Annahme, dass die Einkommensungleichheit stark zugenommen hat, falsch sein. Neue Untersuchungen von Gerald Auten vom US-Finanzministerium und David Splinter vom Joint Committee on Taxation des Kongresses zeigen, dass sich der Anteil der oberen 1 % am Einkommen nach Steuern seit 1962 kaum verändert hat. Dies steht in krassem Gegensatz zu den Arbeiten von Thomas Piketty, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman, die die politische Debatte der letzten Jahre geprägt haben: Das Trio kommt zu dem Schluss, dass der Einkommensanteil der obersten 1 % im gleichen Zeitraum um rund 55 % gestiegen ist.

Anstatt die Frage zu beantworten, wer Recht hat (obwohl ich glaube, dass Auten und Splinter der Wahrheit näher kommen), ist es sinnvoller darüber nachzudenken, ob wir uns auf die obersten 1 % konzentrieren sollten. Aus einer breiteren Perspektive betrachtet, bringt die Debatte über Einkommensgleichheit wenig für diejenigen, die am meisten Hilfe benötigen.

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