91fec00346f86f380eb7dc18_dr2649c.jpg Dean Rohrer

Die Chemie unserer Moral

OXFORD – In der Novelle A Clockwork Orange von Anthony Burgess(und in der Verfilmung von Stanley Kubrick) wird Alex, ein reueloser Psychopath, mithilfe einer Vorrichtung daran gehindert seine Augen zu schließen und gezwungen sich gewalttätige Filme anzusehen. Wie ein Pawlowscher Hund wird Alex konditioniert, mit Übelkeit auf Gewalt und Sex zu reagieren. Diese Szene bleibt zwar schockierend, ist aber, wie so oft im Genre Science-Fiction, gealtert. Die behavioristische Psychologie, auf die sie sich stützt, ist längst nicht mehr aktuell und die Befürchtung, dass Wissenschaft eingesetzt wird, um die Gesellschaft, vielleicht sogar zwangsweise, moralisch zu bessern, wirkt heutzutage nicht mehr zeitgemäß.

Science-Fiction altert zwar schnell, wirkt aber noch lange nach. Während der letzten zehn Jahre war ein Heer von Psychologen, Neurowissenschaftlern und Evolutionsbiologen mit dem Versuch beschäftigt, das neuronale „Uhrwerk“ zu enthüllen, das der menschlichen Moral zugrundeliegt. Die Forscher haben angefangen, die evolutionären Ursprünge pro-sozialer Empfindungen wie etwa Empathie aufzuspüren und begonnen, die Gene zu ermitteln, die einige Individuen zu sinnloser Gewalt und andere zu altruistischem Handeln veranlassen. Auch die Bahnen in unserem Gehirn, die unsere ethischen Entscheidungen prägen, waren Gegenstand der Forschung. Beginnt man zu verstehen, wie etwas funktioniert, zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, wie man es verändern und sogar kontrollieren kann.

Tatsächlich haben Wissenschaftler nicht nur einige der Bahnen im Gehirn identifiziert, die unsere ethischen Entscheidungen prägen, sondern auch chemische Substanzen, die diese neuronalen Aktivitäten regulieren. Eine aktuelle Studie hat gezeigt, dass das Antidepressivum Citalopram die Reaktionen von Personen ändern kann, die sich in einem hypothetischen moralischen Dilemma befinden. Probanden, die das Medikament erhalten hatten, haben eine geringere Bereitschaft gezeigt, das Leben eines Einzelnen zu opfern, um das Leben mehrerer anderer zu retten. Eine andere Untersuchungsreihe hat gezeigt, dass das Hormon Oxytocin, wenn es per Nasenspray verabreicht wird, das Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft innerhalb sozialer Gruppen fördert, aber auch die Kooperation mit jenen reduziert, die als Außenstehende wahrgenommen werden. Neurowissenschaftler haben sogar sorgältig ausgewählte Hirnareale von Probanden magnetisch „aufgeladen“ und ihre moralischen Urteile auf überraschende Art und Weise beeinflusst – und ihnen beispielsweise das Lügen erleichtert.

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