7afe370246f86f3409a2bf2b_m5077c.jpg

Europas Nabelschau ist gefährlich

MADRID: Während die Welt nervös auf den Klimax des Dramas in der Eurozone wartet, ähnelt das Verhalten der europäischen Führer dem politischen Äquivalent dessen, was Physiker als „brownsche Molekularbewegung“ bezeichnen – Regierungsvertreter oszillieren willkürlich von einem kritischen Beratungstermin und europäischen Krisengipfel zum nächsten. Die Wirkung der mit viel Getöse präsentierten Schicksalsentscheidungen, die angeblich die Probleme der Währungsunion lösen sollen, verpufft dabei praktisch sofort nach deren Verkündung.

Zugleich wetteifern eine Vielzahl von Diagnosen und Rezepten um Aufmerksamkeit – und darum, wer die Lage am schwärzesten malen kann. Doch ihr überwältigender Fokus auf die ökonomischen Aspekte der Eurokrise ist selbst Teil des Problems, weil die Krise in erster Linie die tief sitzenden Schwächen der europäischen Institutionen und der Struktur der europäischen Gesellschaft widerspiegelt. Sonst nämlich hätte, was als eine marginale Schuldenkrise begann, die dann durch politische Unentschlossenheit in Griechenland und der EU insgesamt verschärft wurde, sich nicht zu einem existentiellen Entscheidungsmoment für das europäische Projekt ausgewachsen.

Europa leidet unter drei klar zu unterscheidenden Problemen. Erstens ist es nach wie vor nicht imstande, sich den Realitäten einer Welt anzupassen, deren Schwerkraftzentrum sich unwiderruflich nach Osten hin zum Pazifik verlagert und dabei die Aufmerksamkeit der USA mit sich gezogen hat. Zweitens ist der Blick der Europäer mehr denn je nach innen gerichtet, wobei Anspruchsdenken auf weit verbreitete Skepsis trifft – eine Kombination, die selbst in den höchsten Etagen der EU und ihrer nationalen Regierungen Einzug gehalten hat.

https://prosyn.org/ORf7BOLde