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Das russische Leben als dystopische Literatur

MOSKAU – Der Kreml überrascht mich nur selten. Als ich in den 1970ern im Alter von zehn Jahren George Orwells 1984 las, erkannte ich sofort unser sowjetisches Leben wieder. Nachdem Stalin 1935, als Menschen verhungerten und für fiktive Verbrechen eingesperrt wurden, behauptet hatte, alles werde „besser und erfreulicher“, waren solche staatlichen Aussagen nun zur Gewohnheit geworden.

Später in den 1970ern, als Leonid Breschnew das sowjetische Modell des „entwickelten Sozialismus“ proklamierte, liefen etwa 300.000 Bürger in den Westen über. Aber so groß diese Zahl damals auch gewesen sein mag, verglichen mit heute verblasst sie. Der Massenexodus nach der russischen Invasion in der Ukraine vom Februar 2022 erinnert eher an den nach der bolschewistischen Revolution: Zwischen 1917 und 1922 flohen damals bis zu drei Millionen Aristokraten, Landbesitzer, Ärzte, Ingenieure, Priester und andere Fachleute vor der neuen Diktatur des Proletariats.

Selbst laut moderaten Schätzungen haben allein 2022 etwa 800.000 Menschen Russland verlassen – IT-Spezialisten, Journalisten, Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure und Intellektuelle. Wie damals erkannten diese gut ausgebildeten Menschen die Zeichen der Zeit. Sie gingen, um Wladimir Putins immer repressiverem Sicherheitsapparat zu entkommen. Der russische Staat hatte schon immer eine Neigung zum Absolutismus, und seine nötigenden und strafenden Arme haben selten so viel Macht ausgeübt wie heute.

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