mazzucato23_Darrian TraynorGetty Images)_vaccine manufacture Darrian Traynor/Getty Images

Von der Mondmission zu „Erdmissionen“

LONDON: COVID-19 hat die unzähligen Schwächen des modernen Kapitalismus aufgezeigt. Und in vielen Ländern haben frühere Einschnitte bei sozialen Diensten und im öffentlichen Gesundheitswesen die durch die Pandemie verursachten Schäden noch verschärft, während andere selbstverschuldete staatliche Probleme zu einer unzureichenden Koordinierung und Umsetzung der verfolgten Maßnahmen geführt haben. Bei Massentests und Kontaktverfolgung, der Produktion von medizinischem Gerät und der Bildung während der Lockdowns gab es infolgedessen sämtlich Probleme.

Ländern und Staaten, die in die Fähigkeiten ihrer öffentlichen Sektoren investiert haben, ist es dagegen viel besser ergangen. Am augenfälligsten war das in den Entwicklungsländern, wo Vietnam und der indische Bundesstaat Kerala herausragen.

Statt als Investoren letzter Instanz zu agieren, haben sich zu viele Regierungen zu passiven Kreditgebern letzter Instanz entwickelt, die Probleme erst aufgreifen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Doch wie wir während der Großen Rezession nach 2008 hätten lernen sollen, ist es deutlich teurer, nationale Volkswirtschaften während einer Krise zu retten, als in Bezug auf öffentliche Investitionen einen proaktiven Ansatz zu verfolgen.

Zu viele Regierungen haben diese Lehre nicht beherzigt. Angesichts einer weiteren gesellschaftsweiten Herausforderung ist nun klar, dass sie ihre ordnungsgemäße Rolle bei der Gestaltung der Märkte aufgegeben und zugelassen haben, dass öffentliche Einrichtungen durch Outsourcing und andere nur scheinbar effizienzsteigernde Maßnahmen ausgehöhlt wurden. Der Rückzug des öffentlichen Sektors hat der Vorstellung Platz gemacht, dass Unternehmertum und Vermögensbildung die ausschließliche Domäne der Unternehmen seien – eine Sicht, die selbst von den Befürwortern eines „Stakeholder Value“ vertreten wird.

In Wahrheit wird es uns angesichts künftiger Krisen umso schlechter gehen, je mehr wir uns dem Mythos der Überlegenheit des privaten Sektors verschreiben. Ein „besserer Wiederaufbau“ nach der derzeitigen Krise, so wie ihn die Regierung von US-Präsident Joe Biden und viele andere Regierungen versprochen haben, wird eine Erneuerung des öffentlichen Sektors erfordern, und zwar nicht nur durch eine neue Politik und den Ausbau der organisatorischen Fähigkeiten des Staates, sondern auch durch Wiederbelebung des Narrativs vom Staat als einer Quelle der Wertschöpfung.

Wie ich in meinem neuen Buch Mission Economy: A Moonshot Guide to Changing Capitalism erkläre, erforderte die Mondlandung einen extrem fähigen öffentlichen Sektor und eine zielgerichtete Partnerschaft mit dem privaten Sektor. Weil wir diese Kapazitäten abgebaut haben, können wir nicht hoffen, frühere Erfolge zu wiederholen oder gar ehrgeizige Ziele wie die in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und im Pariser Klimaabkommen zu erreichen.

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Das Apollo-Programm hat gezeigt, wie ein klar definiertes Ergebnis durch multisektorale öffentlich-private Zusammenarbeit, missionsorientierte Beschaffungsverträge und eine vom Staat angetriebene Innovation und Risikoübernahme organisatorische Veränderungen auf allen Ebenen herbeiführen kann. Zudem bringen solche Unternehmungen tendenziell Nebenprodukte – wie Software, Handykameras oder Babynahrung – hervor, die einen weitreichenden Nutzen bieten.

Das Modell der ersten Mondlandung hält Erkenntnisse und Inspirationen zur Verfolgung gleichermaßen ehrgeiziger „Erdmissionen“ bereit. So sollten wir etwa, um die 17 SDGs umzusetzen, jedes davon in klar abgesteckte Teilmissionen aufspalten, die den Boden für weitere multisektorale Innovationen von unten bereiten würden. Ein plastikfreier Ozean etwa erfordert Investitionen und Innovationen in so unterschiedlichen Bereichen wie Schifffahrt, Biotechnologie, Chemikalien, Abfallwirtschaft und Design. Genau das bewirkte das Apollo-Programm, indem es Innovationen in den Bereichen Luft- und Raumfahrt, Ernährung, Werkstoffkunde, Elektronik, Software und anderswo auslöste.

Es geht bei einem missionsorientierten Ansatz nicht darum, dass der Staat „die Gewinner auswählt“, sondern dass er die Richtung für Veränderungen – wie eine Umstellung auf eine umweltfreundlichere Wirtschaft – vorgibt, die Investitionen und Innovationen in einer Vielzahl von Sektoren erfordern. Dabei sollte die geballte Macht der politischen Instrumente genutzt werden, um Projekte ins Leben zu rufen, die viele unterschiedliche teilnahmewillige Akteure zur Entwicklung von Lösungen bewegen. Die NASA hat damals ihre Beschaffungsverträge auf ihre Ziele ausgelegt. Dabei hat sie zu Bottom-up-Lösungen ermutigt und Klauseln, die „übermäßige Gewinne“ verboten, sowie Fixkosten festgelegt, damit die Mondmission eine Beteiligung sowohl an den Risiken als auch an den Belohnungen umfasste. Dies ist eine wichtige Lehre für viele Regierungen, die durch Outsourcing Kostensteigerungen und Qualitätsverschlechterungen erlitten haben.

Erdmissionen haben mit Mondmissionen viel gemeinsam, aber beide sind nicht synonym. Ähnlich sind sich beide darin, dass sie eine mutige, visionäre Führung durch Regierungen erfordern, die angemessen ausgestattet sind, um sich hohe Ziele zu setzen und konsequent zu verfolgen.

Man denke etwa an den COVID-19-Impfstoff. Der Kollektivgeist und ergebnisorientierte Ansatz bei der Impfstoffforschung und -entwicklung im letzten Jahr beschwor Erinnerungen an das Apollo-Programm herauf.

Während technologische Durchbrüche neue Instrumente hervorbringen können, sind sie nicht zwangsläufig selbst Lösungen. Erdmissionen erfordern Aufmerksamkeit für politische, aufsichtsrechtliche und Verhaltensänderungen. Es wurden im Rahmen öffentlich-privater Kooperationen in Rekordzeit sichere, wirksame Impfstoffe entwickelt, wobei sich die öffentlichen Investitionen als absolut unverzichtbar erwiesen. Doch kam es anschließend sofort zu Unterschieden zwischen einkommensstarken und einkommensschwachen Ländern beim Impfstofferwerb, die sich seitdem noch vertieft haben.

Bei einer Erdmission wie der weltweiten Impfung sind technologische Neuerungen nur so nützlich wie ihre realweltliche Nutzung. Eine „Impfstoff-Apartheid“ (statt eines Menschheitsvakzins) würde eine moralische und wirtschaftliche Katastrophe darstellen. Wenn es den Pharmaunternehmen mit ihrer erklärten Unterstützung für den Grundsatz des Stakeholder Value ernst ist, sollten sie ihre COVID-19-Impfstoffpatente, Daten und Fachkenntnisse mittels des COVID-19 Technology Access Pool teilen. Bisher wird dieser nicht genutzt.

Auch die Regierungen müssen sich den Grundsatz des Stakeholder Value wirklich zu eigen machen; dieser findet nicht nur auf die Unternehmensführung Anwendung. Auch öffentlich-private Kooperationen müssen sich vom öffentlichen Interesse leiten lassen und dürfen nicht die Versäumnisse im Bereich der heutigen Digitalwirtschaft wiederholen, die in ihrer jetzigen Form entstand, nachdem der Staat das technologische Fundament zur Verfügung stellte und es dann versäumte, das, was darauf errichtet wurde, zu regulieren. Infolgedessen haben ein paar dominante Big-Tech-Unternehmen ein neues Zeitalter algorithmischer Wertabschöpfung eingeläutet, bei dem einige Wenige auf Kosten der großen Mehrheit profitieren.

Die Technologie allein wird soziale und wirtschaftliche Probleme nie lösen. Bei der Anwendung des Mondmissionsprinzips auf komplexe Herausforderungen auf der Erde müssen die Politiker auch den unzähligen sonstigen sozialen, politischen, technologischen und Verhaltensfaktoren Aufmerksamkeit widmen und eine die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft und die öffentlichen Institutionen umfassende gemeinsame Vision formulieren.

Erdmissionen müssen daher auch die Bürger in umfassender Weise einbeziehen. CO2-Neutralität etwa muss in Zusammenarbeit mit den Bürgern an deren Wohnort konzipiert werden, etwa im sozialen Wohnungsbau. Durch Verfolgung eines breite Schichten einbeziehenden Stakeholder-Ansatzes kann sich eine Mission zu einem stabilen staatsbürgerlichen Fundament und einem Motor für nachhaltiges Wachstum entwickeln, so wie sich diejenigen, die nach einem grünen New Deal, Health for All und Plänen zur Überwindung der digitalen Kluft rufen, das vorstellen.

Diese Lehren könnten für die Biden-Regierung, die imstande ist, die Macht eines Einrichtungen wie die Defense Advanced Research Projects Agency und die National Institutes of Health (die bis zu 40 Milliarden Dollar jährlich für Innovationen im Medikamentenbereich ausgeben) umfassenden unternehmerischen Staates zu nutzen, gar nicht relevanter sein.

Es besteht nun eine enorme Chance, eine Industriepolitik zu verfolgen, die über die traditionellen sektoralen und technologischen Silos hinausgeht, und im öffentlichen Interesse eine missionsorientierte Regierungspolitik wiederherzustellen. Eine moderne, auf eine „grüne Renaissance“ abzielende Industriestrategie etwa würde erfordern, dass alle Sektoren – von der künstlichen Intelligenz und vom Transportwesen bis hin zu Landwirtschaft und Ernährung – Innovationen vorantreiben und sich in eine neue Richtung entwickeln. Präsident John F. Kennedy hatte seine Mondmission. Bidens Mission besteht darin, diese nach Hause zu bringen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/M7b7OQcde