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Maos China wird 60

LONDON: Jedes Land ist von seiner Geschichte geprägt. Doch zugleich erfinden Länder ihre Geschichte auch und schreiben sie um. Die Darstellung davon, wie wir zu denen wurden, die wir heute sind, muss unserem Empfinden von „Stammessolidarität“ und eigenem Erfolg Rechnung tragen. Wir übertreiben unsere Triumphe und Tugenden, machen unsere Schurken zu Außenseitern und vertuschen eigenes Versagen. All dies macht das Studium der Geschichte potenziell subversiv, aber enorm wichtig. Gute Historiker ermutigen uns, ehrlich gegenüber uns selbst zu sein. Sie zerstören unsere Selbsttäuschungen.

Dies gilt besonders in Bezug auf den Umgang mit unseren fehlerhaften Helden – wie wir es heute bei der Kommunistischen Partei Chinas und Mao Zedong erleben. Im Oktober ist es 60 Jahre her, dass Mao auf einem Podest auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking die Gründung der Volksrepublik bekannt gab. Dieser Augenblick markierte das Ende eines jahrelangen Krieges und schrecklicher Not; die Revolution hatte durch Blut, Opfer, Heldentum, die Fehler der Feinde und die manipulative Unterstützung Stalins, der sich als Freund ausgab, den Sieg davongetragen. Die Jahrzehnte raubgieriger Kriegsherren, gieriger Imperialisten und japanischer Invasoren waren vorbei; China konnte auferstehen – obwohl noch viel Leid folgen sollte, als Maos Tyrannei Wurzeln schlug.

Mao wird von verschiedenen Seiten grundverschieden beurteilt. Für stramme Kommunisten war er in dreifacher Hinsicht ein Held – historisch, patriotisch und im Weltrahmen betrachtet. Für den tapferen und charismatischen Dissidenten Wei Jingsheng hat Mao „praktisch ganz China einem Zustand der Gewalt, Verlogenheit und Armut unterworfen“.

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