Bolivien heilen

BUENOS AIRES – Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat Lateinamerika weniger zwischenstaatliche Kriege erlitten und weniger Staatengründungen erlebt als irgendeine andere Region der Welt. Der Kontinent war ein relativ ruhiger Nebenschauplatz, da seine Länder weder dazu neigen, sich zu bekämpfen noch sich von innen heraus zu teilen. Doch nun steht Bolivien eventuell kurz davor, letzterer Tendenz zuwider zu handeln.

Ein Referendum zur Autonomie, dass im Mai in Boliviens östlicher Provinz Santa Cruz angenommen wurde, hat die Angst vor einer späteren Abspaltung der Region geschürt. Die relativ reiche, von der Opposition regierte, ethnisch gemischte und konservativere Provinz, die mit fruchtbarem Tiefland und Kohlenwasserstoffen gesegnet ist, stimmte mit großer Mehrheit für die Autonomie. Die unverblümtesten regierungsfeindlichen Kräfte in Santa Cruz scheinen auf eine Teilung zu brennen. Zudem scheinen neuere Referenden in den Amazonasprovinzen Beni und Pando das Gefühl der potenziellen nationalen Zersplitterung zu verstärken.

Eine Schlüsselrolle kommt bei diesem schwelenden Konflikt der Ethnizität zu, deren besondere Bedeutung sogar vor der Wahl von Präsident Evo Morales 2005 offenkundig wurde. Die Kombination aus stark mobilisierten und lautstarken indigenen Gruppen (die amerikanischen Indianer, die hauptsächlich im westlichen Hochland von Bolivien leben, stellen 55 % der Bevölkerung dar) und dem schwindenden Einfluss der traditionellen Eliten in einer Phase des sozioökonomischen Verfalls hat eine Gesellschaft geschaffen, in der es mehr Verlierer als Gewinner gibt. Das Referendum kennzeichnet ein kritisches Zusammentreffen der gesellschaftlichen, regionalen und politischen Differenzen Boliviens.

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