Deutschlands wirtschaftliche Kopfschmerzen

Noch einen Monat vor seiner Wiederwahl im September schien Kanzler Gerhard Schröder der sichere Verlierer zu sein. Die Wähler nahmen ihm übel, dass er sein Versprechen von 1998, die Arbeitslosigkeit zu senken, nicht eingehalten hatte. Jetzt, nachdem Schröder wieder an die Macht gelangt ist, scheint mit Sicherheit Deutschlands Wirtschaft der Verlierer zu sein.

Seinen Job sicherte sich Kanzler Schröder, wie inzwischen jeder zugibt, im Zusammenhang mit der Hochwasserkatastrophe in Ostdeutschland und mit seinem opportunistischen Kreuzzug gegen die Irak-Politik der USA. In jedem der beiden Fälle konnte er sich erfolgreich als Krisenmanager herausputzen.

Doch den Preis dafür, daß er die Inhalte der Auseinandersetzung von der Wirtschaft weggelenkt hatte, bezahlt der Kanzler damit, dass ihm nun das Mandat fehlt, um ernsthaft Arbeitsmarkt- und andere Reformen in Angriff zu nehmen. Tatsächlich hatte sich Herr Schröder im Wahlkampf vor allem für Gewerkschaftsforderungen stark gemacht.

Zu Beginn seiner ersten Amtszeit schien Schröder ein moderner Sozialdemokrat zu sein, der etwas von Wirtschaft verstand. Als er seinen ersten Finanzminister, Oskar Lafontaine, feuerte, hofften die Deutschen zuversichtlich auf Reformen und einen wirtschaftlichen Aufschwung.

Diese Hoffnungen sind geschwunden. Deutschlands lebenswichtige mittleren und kleinen Betriebe - der berühmte "Mittelstand" - hat nicht nur seine Dynamik verloren, auch die Investitionen in diesen Bereich sind versiegt. Zusammen mit der heutigen schwachen Nachfrage war dies ein Rezept, das wirtschaftliche Kopfschmerzen bereitet.

Ebenso beunruhigte, dass Schröder die fehlgeleiteten Reformvorschläge der "Hartz Kommission", eines Gremiums aus Vertretern der Industrie- und der Gewerkschaftsinteressen, willkommen hieß. Die Vorschläge der Kommission beruhen auf der Illusion, der Hauptgrund für die Arbeitslosigkeit in Deutschland sei bei dem uneffizient arbeitenden Arbeitsamt, das die Arbeitssuchenden nicht an die offenen Stellen vermitteln könne, zu suchen.

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Tatsächlich aber ergibt sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland in erster Linie aus dem Mangel an Arbeitsplätzen für wenigqualifizierte Arbeit. Das deutsche Fürsorgesystem bietet den niedrigqualifizierten Arbeitskräften tatsächlich ein derart hohes, weit über den Marktpreisen liegendes Einkommen, das diese Arbeitskräfte buchstäblich für solche Arbeitsplätze zu teuer macht. Die Umsetzung der "Hartz-Reformen" wurde nun zu einem der obersten Regierungsziele erklärt; sie wird Aufmerksamkeit und politischen Willen von den eigentlich nötigen Reformen ablenken, nämlich von der Überarbeitung des Sozialversicherungswesens in Deutschland.

Was die wirtschaftlichen Aussichten in Deutschland noch stärker trübt, ist die bevorstehende, neue Runde von Steuererhöhungen. Die Anhebung der Benzinsteuer ist für den Januar 2003 vorgesehen. Die Erleichterungen bei der Einkommenssteuer, die 2003 fällig werden sollten, wurden verschoben. Die Gespräche nach der Wahl kreisen um höhere Vermögenssteuern, Gewerbesteuern, und die Anhebung der Mehrwertsteuer - all das steht im Widerspruch zu dem, was Deutschlands Wirtschaft jetzt braucht.

Steuererhöhungen werden das Finanzproblem der Regierung nicht lösen, da man, wenn man das Wirtschaftswachstum schwächt, damit lediglich das Steueraufkommen drosselt. Die Politik von Finanzminister Eichel steht im Begriff, so unberechenbar zu werden wie die Steuerpolitik der vorhergehenden Regierung Kohl. Die angestrengte Suche nach neuen Einkünften verdrängt Sparmaßnahmen, die in den letzten Jahren zum Schrumpfen der Investitionen im öffentlichen Sektor, zur Drosseln der Ausgaben für den Bildungsbereich und zur Verlagerung der Zuständigkeit für die Ausgaben der Fürsorge von der Bundesregierung weg und hin zu den Gemeindeverwaltungen geführt hat.

Eichels Engagement für einen ausgeglichenen Haushalt ist sicherlich wichtig. Aber ein ausgeglichener Haushalt ist kein Ersatz für eine mittel- und langfristige, strategische Perspektive in der Steuerpolitik, die nachhaltiges Wachstum fördert und die Notwendigkeit anerkennt, in Deutschlands kränkelndes Ausbildungssystems zu investieren. In vielen deutschen Schulen übersteigen die jüngsten Lehrer gut ihre Mitvierziger, während es den Universitäten zunehmend schwerer fällt, junge Forscher und Lehrkräfte an sich zu ziehen.

Europas Erfahrungen in den letzten 10 Jahren zeigen, dass die Haushaltskonsolidierung von einer wachstumsfreundlichen Steuer- und Ausgabenpolitik getragen sein muß. Sowohl die Staatsausgaben wie die Steuern müssen dazu beitragen, den Ansporn zu arbeiten, zu investieren und Neuerungen einzuführen zu verstärken.

Auch wenn Schröder jetzt auf Reformen drängen wollte, wird ihm das bei der politischen Lage, in der er sich befindet, schwer fallen. Seine dünne Mehrheit im Bundestag sieht sich einem Bundesrat gegenüber, der von der Opposition der Christlich-Demokratischen und der Christlich-Sozialen Union (CDU/CSU) beherrscht wird. Daher wird jeder Vorschlag trickreichen Verhandlungen ausgesetzt sein. Die Notwendigkeit, den besonderen Interessen der Regierungen der Länder gerecht zu werden, engt des weiteren die Aussicht auf ernsthafte Reformen ein.

Besonders der letzte Punkt ist von größerer Tragweite. Deutschlands politische Mitte, in der Wahlen gewonnen und verloren werden, bleibt hinsichtlich ihrer politischen Prioritäten weiterhin unklar und wenig verlässlich. Solange die Wirtschaft im Mittelpunkt des Wahlkampfes stand, lag Schröders Regierung klar auf Seiten der Verlierer. Als sich der Schwerpunkt hin zu Hochwasserhilfe und außenpolitischen Fragen verlagerte, schwenkte eine Mehrheit dieser Mitte zu Schröder um, trotz seiner bekundeten Missachtung für internationale Verpflichtungen und Bündnissen.

Dies lässt vermuten, dass eine Mehrheit der Deutschen noch immer nicht die wirtschaftliche Schwäche für wichtiger hält als andere, kurzfristigere Fragen. Es signalisiert auch, dass die beiden wichtigsten Oppositionsparteien die Folgen von Schröders Wahlsieg 1998 zwar zu Recht nicht gutheißen, dass sie aber auch viel zu lange diesen Wahlsieg als einen unglücklichen Unfall angesehen haben, der sich bei der erst besten Gelegenheit korrigieren lässt. Daher boten weder die CDU/CSU noch ihre liberaler Verbündeter, die Freien Demokraten ein überzeugendes, politisches Programm an, wie mit Deutschlands wirtschaftlichen Problemen umzugehen sei.

Tatsächlich war und ist Edmund Stoibers Wirtschaftspolitik als Ministerpräsident von Bayern kaum weniger interventionistisch als die Schröders. Die Hauptforderung im Wahlkampf der Opposition war die Andeutung, dass die Rechte besser als die Linke mit der Wirtschaft umgehen könne. Aber das war nur Gerede. Weil es der Rechten an klaren politischen Alternativen fehlte, machte sie es dem Wähler leicht, sich wieder dem Kanzler zuzuwenden, sobald dieser entschied, nicht mehr über die Wirtschaft zu reden.

Die nächsten vier Jahre werden sowohl für die Regierung wie auch für die Opposition eine Herausforderung bedeuten. Kanzler Schröder wird nicht umhin kommen, die wirklichen wirtschaftlichen Probleme in Deutschland anzugehen. CDU/CSU und FDP werden gezwungen sein, überzeugende Alternativen zu Schröders Politik vorzulegen. Solange die eine oder die anderen Seite nicht das Entscheidende tut, wird Deutschland wirtschaftlich schwach und politisch unberechenbar bleiben.

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