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Lutsch meine Zunge, zerquetsch meine Eier

LJUBLJANA – In einem kürzlich ausgestrahlten Video ist zu sehen, wie der Dalai Lama bei einer viel beachteten öffentlichen Zeremonie einen siebenjährigen Jungen bittet, ihn zu umarmen, und dann zu ihm sagt: „Lutsch meine Zunge“. Die unmittelbare Reaktion vieler Menschen im Westen bestand darin, den Dalai Lama für sein unangemessenes Verhalten zu verurteilen, wobei viele spekulierten, er sei senil, pädophil oder beides. Andere merkten wohlwollend an, dass das Herausstrecken der Zunge in der tibetischen Kultur ein traditioneller Brauch ist – ein Zeichen des Wohlwollens (um zu zeigen, dass die Zunge nicht dunkel ist, was auf das Böse hindeutet). Jemanden aufzufordern, sie zu lutschen, kommt in der Tradition jedoch nicht vor.

Der korrekte tibetische Ausdruck lautet „Che le sa“, was in etwa „Iss meine Zunge“ bedeutet. Großeltern benutzen ihn oft liebevoll, um ein Enkelkind zu necken, als ob sie sagen wollten: „Ich habe dir alles gegeben, jetzt musst du nur noch meine Zunge essen.“ Es erübrigt sich zu sagen, dass die Bedeutung in der Übersetzung verloren gegangen ist. (Obwohl Englisch die zweite Sprache des Dalai Lama ist, beherrscht er sie nicht auf muttersprachlichem Niveau.)

Natürlich schließt die Tatsache, dass etwas Teil einer Tradition ist, nicht unbedingt aus, dass es in Frage gestellt oder kritisiert wird. Auch die Klitoridektomie ist Teil der alten tibetischen Tradition, aber wir würden sie heute sicher nicht verteidigen. Und selbst das Herausstrecken der Zunge hat im letzten halben Jahrhundert eine seltsame Entwicklung durchgemacht. Wie Wang Lixiong und Tsering Shakya in The Struggle for Tibet schreiben:

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