Ein Obama-Moment für Indiens Unberührbare

NEW DELHI: Zu den vielen internationalen Folgen des überwältigenden Wahlsieges von Barack Obama in den USA gehört, dass sich die Menschen überall auf der Welt die Frage stellen, ob ein derartiger Durchbruch auch anderswo möglich wäre. Könnte in einem anderen mehrheitlich weißen Land ein Farbiger an die Macht kommen? Könnte ein Mitglied einer benachteiligten Minderheit die Umstände seiner Geburt überwinden und die Führung seines (oder ihres) Landes übernehmen?

Viele Analysten in unterschiedlichsten Ländern insbesondere in Europa sind zu dem Schluss gekommen, dass so etwas dort auf absehbare Zeit nicht eintreten könne. In Indien liegen die Dinge anders. Nationalen Minderheiten angehörende Politiker üben hier schon lange in verschiedenen hohen Ämtern Autorität, wenn nicht gar Macht aus. Tatsächlich war die Siegerin der letzten allgemeinen Wahlen in Indien eine Frau italienischer Herkunft und römisch-katholischen Glaubens (Sonia Gandhi), die einem Sikh (Manmohan Singh) Platz machte, der als Ministerpräsident von einem Muslim (Präsident Abdul Kalam) ins Amt eingeführt wurde – und dies in einem Land, in dem 81% der Bevölkerung Hindus sind. Es könnte hier nicht nur passieren, so die Inder, es ist bereits passiert.

Doch diese Selbstzufriedenheit ist verfrüht. Die engste indische Analogie zur Stellung schwarzer Amerikaner ist jene der früher als „Unberührbare“ bezeichneten Dalits – der Kastenlosen, die seit Tausenden von Jahren in demütigender Weise diskriminiert und unterdrückt werden. Wie die Schwarzen in den USA stellen die Dalits etwa 15% der Bevölkerung; man findet sie überproportional häufig in Jobs mit geringerem Ansehen und Einkommen; ihr Bildungsniveau ist geringer als das der oberen Kasten; und sie sehen sich noch heute täglicher Diskriminierung ausgesetzt – allein aufgrund ihrer Identität zum Zeitpunkt ihrer Geburt. Erst wenn ein Dalit Indien regiert, kann man wirklich davon sprechen, dass das Land seinen eigenen „Obama-Moment“ erreicht hat.

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