Russlands Zukunft liegt im Hier und Jetzt

Die russische Politik ist keine Politik einer langweiligen Steppenlandschaft. Deshalb können die russischen Wähler auch nicht bei der einen Wahl zur Rechten tendieren und bei der anderen zur Linken, ohne dabei befürchten zu müssen, dass sie völlig den Bach runter rauschen. Mental leben wir jeweils auf einer der beiden Seiten eines tiefen Grabens. Im Hinblick auf die Wahlen zur Duma am 19.Dezember und die Präsidentschaftswahlen im nächsten Sommer ist die momentan wichtigste Frage, ob das Land seinen Übergang zur Demokratie oder seinen Rückschritt über genau diese Graben fortsetzen wird.

Als die heute im Amt befindliche Duma gewählt wurde, munkelte man, dass es eine Art nostalgisches Votum für die guten alten sowjetischen Zeiten geben werden, als die Löhne noch garantiert waren, die Zukunft ohne grosse Veränderungen erwartet wurde und als man sich sicher sein konnte, dass man auch ohne harte Arbeit ein geregeltes Leben haben würde. Eine Meinungsumfrage vom September letzten Jahres zeigt, dass diese Empfindungen tatsächlich überleben: 48% wollten Leonid Brezhnev wieder als Russlands Präsidenten.

Solche Stimmen zählen zwar, aber doch jeden Tag immer weniger, weil eine Epoche der russischen Geschichte jetzt dem Ende entgegen geht. Auch wenn diese Epoche nur neun Jahre gedauert hat, erreicht ihr Einfluss vergleichsweise den des Zeitalters Peter des Grossen und der Oktober-Revolution. Es war eine fantastische, ja schwindelerregende Ära, in der riesiges Glück versprochen und verloren wurde. Es war zugleich aber auch eine Zeit, in der Millionen Menschen lernten allein zurecht zu kommen, ohne einen gesichtslosen grossen Bruder, der über sie wacht.

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