Gibt es eine europäische Identität, gibt es ein Europa?

PRAG: Bezeichnen sich die europäischen Völker tatsächlich als "Europäer" oder handelt es sich hierbei um eine bloße Floskel, mit der versucht wird, die geographischen Gegebenheiten in einen "Gedankenstaat" zu transformieren. Diese Frage wird häufig im Zusammenhang mit Debatten darüber, wieviel Souveränität die Nationalstaaten auf die Europäische Union übertragen können oder sollten, gestellt. Viele sind der Meinung, dass es nicht gut enden könnte, wenn man die nationalen Bindungen zu schnell in den Hintergrund drängt und gegen ein nicht vertrautes, vielleicht sogar schimärisches Konzept der europäischen Einigung eintauscht.

Wenn ich mich selbst frage, bis zu welchem Grad ich mich als Europäer empfinde und was mich mit Europa verbindet, muß ich mit leichtem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, dass ich erst jetzt über diese Frage nachdenke. Warum habe ich nicht schon viel früher darüber nachgedacht, zu der Zeit, als ich die Welt zu entdecken begann? War es deshalb, weil ich meine Zugehörigkeit zu Europa als oberfächliche Angelegenheit von geringer Bedeutung betrachtete? Oder nahm ich meine Verbindung mit Europa als einfache Gegebenheit hin?

Meine gesamte Umwelt war so selbstverständlich europäisch, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, meine Empfindungen zu hinterfragen. Nicht nur das – ich glaube, ich hätte lächerlich ausgesehen, wenn ich geschrieben oder erklärt hätte, dass ich Europäer sei oder mich als Europäer fühlte, oder wenn ich mich ausdrücklich zu einer europäischen Orientierung bekannt hätte. Derartige Erklärungen hätten pathetisch und wichtigtuerisch gewirkt, und ich hätte sie selbst als anmaßende Version einer Art von Patriotismus gehalten, den ich bei Nationalpatrioten verurteile.

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