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Ein Ende von Roe v. Wade bringt Amerika verfassungsmäßig an den Rande des  Abgrunds

WASHINGTON, DC – Die amerikanische Republik wird derzeit erneut vom alten rechtlichen Gespenst der Doktrin der Staatenrechte heimgesucht. Diese untote Verfassungstheorie wurde einst genutzt, um vor dem US-Bürgerkrieg die Sache der rebellierenden Sklavenhalterstaaten zu fördern und anschließend ein Jahrhundert lang die Rassentrennung in den ehemaligen Südstaaten zu verteidigen. Heute bedroht sie erneut die Bürgerrechte und die Fundamente des amerikanischen Staates.

Die Theorie der Staatenrechte besagt, dass die US-Einzelstaaten über zentrale Freiheiten befinden können und sogar nationale politische Regelungen nullifizieren können. Und sie zieht sich wie ein roter Faden durch den kürzlich durchgestochenen Entwurf einer vom Richter Samuel Alito verfassten Mehrheitsmeinung des US Supreme Court, die die bahnbrechende Entscheidung des Gerichts in der Sache Roe v. Wade aus dem Jahr 1973, die die Abtreibung landesweit für zulässig erklärte, aufheben würde.

Ein derartiges Urteil würde die USA zum Status quo ante zurückbringen, als die Einzelstaaten die Abtreibung zur Straftat erklären konnten – was vor 1973 dreißig von ihnen taten. Der Supreme Court würde also die Uhr bei den Frauenrechten um ein halbes Jahrhundert zurückdrehen und eine Büchse der Pandora öffnen: Er würde einen weitergehenden richterlichen Aktivismus ermöglichen, etabliertes Präzedenzrecht aufzuheben.

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