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Der gefährliche Rückzug in den Protektionismus

STOCKHOLM – Handelshemmnisse, Zölle und andere protektionistische Maßnahmen treten weltweit immer stärker in den Vordergrund. Als Rechtfertigung wird häufig wirtschaftliche Sicherheit angeführt. Die jüngste Entscheidung der US-Regierung unter Präsident Joe Biden, die Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge auf 100 Prozent zu vervierfachen, die Zölle auf Solarzellen zu verdoppeln (auf 50 Prozent) und die Zölle auf Lithium-Ionen-Batterien für Elektrofahrzeuge (auf 25 Prozent) mehr als zu verdreifachen, markiert einen folgenreichen neuen Schritt in diese Richtung.

Bisher wurden die US-Handelsbeschränkungen gegenüber China mit dem Argument der nationalen Sicherheit begründet: Man wollte verhindern, dass sich das chinesische Militär sensible Technologien aneignet. Zwar lässt sich darüber diskutieren, ob diese Politik sinnvoll war, aber sie schien zumindest in eine längerfristige Strategie zu passen. Die erwähnten jüngsten protektionistischen Maßnahmen haben jedoch nichts mit Chinas militärischen Fähigkeiten zu tun. Vielmehr zielen sie einzig und allein darauf ab, zu verhindern, dass billigere und oftmals bessere umweltfreundliche Technologien die Verbraucherinnen und Verbraucher in den USA erreichen.

Der Zusammenhang mit den Wahlen in den USA ist offensichtlich. Biden versucht, Donald Trump den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er an die gleiche protektionistische Stimmung anknüpft, die der voraussichtliche republikanische Präsidentschaftskandidat Trump seit Jahren schürt. Schließlich war es Trump, der die Welt auf einen neuen protektionistischen Pfad führte, als er umfassende Zölle auf Stahl, Aluminium und viele andere Einfuhren aus China verhängte. Um nicht von Biden ausgestochen zu werden, hat er bereits angekündigt, die Zölle auf chinesische Elektrofahrzeuge aus Mexiko zu verdoppeln und weitere Zölle auf eine noch breitere Palette von Produkten einheben zu wollen.

Diese Maßnahmen sind selbst für sich genommen teuer und kontraproduktiv. Zölle verursachen höhere Kosten für die Verbraucher und verringern den Wettbewerbsdruck und damit die Innovation. In diesem Fall erschweren sie auch den Übergang zu einer Wirtschaft mit Netto-Null-Emissionen. Wirtschaftlich gesehen verheißt diese Politik keine positiven Aspekte. Schlimmer noch, diese jüngste Runde protektionistischer Maßnahmen ist Teil eines zunehmend beunruhigenden und gefährlichen Trends. Schritt für Schritt zerschlagen die Großmächte eine internationale Wirtschaftsordnung, die über viele Jahrzehnte hinweg durch Handelsintegration und Globalisierung enorme Vorteile gebracht hat.

Dabei handelte es sich um hart erkämpfte Fortschritte. Die erste große Globalisierungswelle endete mit dem Ersten Weltkrieg. In der Zwischenkriegszeit folgten Handelskriege und tiefe Wirtschaftskrisen. Obwohl die Handelsintegration nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Gang kam und den Wiederaufbau Westeuropas und Japans begünstigte, blieb ihr Ausmaß begrenzt. Erst Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre setzte die nächste große Globalisierungswelle ein, und der Welthandel erreichte schließlich wieder das Niveau von vor 1914.

Die rasche Ausweitung der Handels- und Investitionsströme in den darauffolgenden drei Jahrzehnten sollte sich in praktisch allen makroökonomischen Kennzahlen als spektakulärer Erfolg erweisen. Etwa ein Drittel aller jemals produzierten Güter wurde in diesem Zeitraum hergestellt, und das führte zum Aufstieg einer neuen weltweiten Mittelschicht. Die Armut wurde drastisch reduziert und die Kluft zwischen reichen und armen Ländern begann sich zum ersten Mal seit Beginn der industriellen Revolution zu schließen.

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In den letzten zehn Jahren vollzog sich jedoch ein Umdenken in der Handelsdebatte. Der neue Schwerpunkt liegt nun auf wirtschaftlicher Sicherheit, auf „De-Risking“ und der Unterstützung einheimischer Wirtschaftszweige durch massive industriepolitische Subventionen. Wir bewegen uns offenbar rückwärts, wodurch die Gefahr einer Rückkehr zu den Handelskriegen vergangener, dunklerer Zeiten besteht.

Sowohl der Internationale Währungsfonds als auch die Welthandelsorganisation haben umfangreiche Studien veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass eine stärkere wirtschaftliche Fragmentierung das weltweite BIP um 5-7 Prozent verringern würde, wobei ein unverhältnismäßig großer Teil der Last auf die weniger entwickelten Länder entfällt. Das sind gewaltige Zahlen mit enormen Folgen. Die Agenda für nachhaltige Entwicklung, für die sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen jedes Jahr einsetzen, wandelt sich vom praktischen Ziel zu einem Wunschtraum. Ohne Wachstum in einer sich weiter integrierenden Weltwirtschaft werden die meisten der 17 Ziele schwieriger, wenn nicht gar unmöglich zu erreichen sein.

Es fällt leicht, sich ein vorteilhafteres, vernünftigeres Szenario vorzustellen, im Rahmen dessen die Vereinigten Staaten zur Verteidigung der regelbasierten Weltwirtschaftsordnung zurückkehren, China durch Einhaltung der Spielregeln seine Glaubwürdigkeit wiederherstellt und die Europäische Union ihrem Anspruch gerecht wird, eine globale Verfechterin des Freihandels zu sein. Damit würde jeder seine eigenen Interessen durchsetzen und auch der Rest der Welt würde profitieren.

Dennoch weist der Trend in die andere Richtung. Während Biden und Trump um ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Protektionismus wetteifern, hat auch Europa begonnen, chinesische E-Fahrzeuge als Bedrohung zu betrachten, anstatt sie als Chance zur Beschleunigung des grünen Übergangs zu begreifen. Wenn man dann noch Chinas Erklärungen über die Schaffung eines autarken „doppelten Kreislaufs“ sowie Indiens fortgesetzte Subventionierungen und Widerstand gegen den Handel hinzunimmt, sind die Voraussetzungen für eine noch radikalere Fragmentierung der Weltwirtschaft gegeben.

Angesichts der Tatsache, dass diese Großmächte Grundsätze und politische Strategien ablehnen, die in der Vergangenheit zu beispiellosen wirtschaftlichen Erfolgen geführt haben, bleibt zu hoffen, dass politische Entscheidungsträger überall den Mut finden, Abstand zu gewinnen und das Gesamtbild zu überdenken. Die Geschichte zeigt, welche Risiken wir eingehen, wenn wir die Globalisierung zurückfahren. Diesen Weg dürfen wir nicht noch einmal beschreiten.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/18h8dCJde