Wachposten

Die Vorstellung, dass Menschen unveräußerliche Rechte – wie beispielsweise das Recht auf freie Meinungsäußerung oder das Recht darauf, nicht gefoltert zu werden – besitzen, und dass diese Rechte schon auf Grund ihrer Existenz als Menschen bestehen, diese Vorstellung ist selbstverständlich fiktiv. Denn eigentlich sind Menschen nicht mehr als eine bloße Ansammlung von Fleisch auf Spießen. Und genau dies scheint die unangreifbare Gewissheit zu sein, die die Grundlage der meisten Willkürherrschaften weltweit bildet: Trotz allem, was die dort lebenden Untergebenen sind oder besitzen – sie bleiben doch immer den Launen des jeweiligen Regimes ausgesetzt und müssen diesen standhalten.

In der Tat entsteht die Vorstellung von absoluten Rechten, die den Menschen auf Grund ihrer Menschlichkeit innewohnen, anfangs als wilde Behauptung angesichts Äonen nackter Beweise des Gegenteils. Doch es war eine magische Behauptung. “Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten, unveräußerlichen Rechten ausgestattet worden sind, und dass zu diesen Rechten auch das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören …”

Die wahrhaft revolutionäre Erkenntnis in diesem Passus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung liegt nicht in der Verwendung der Worte “Wahrheiten” oder “selbstverständlich” oder “gleich geschaffen” oder in irgend etwas anderem; die Erkenntnis liegt vielmehr in der ruhigen Selbstgewissheit der ersten beiden Worte “Wir halten”. Nehmen Sie zur Kenntnis, dass der Text nicht sofort mit “Es ist erwiesenermaßen selbstverständlich, dass …” startet, oder mit einer ähnlichen, durch die Logik diktierten Konstruktion. Tatsächlich bleibt die Selbstverständlichkeit der Behauptung flüchtig und immanent, bis einige Leute darauf beharren und sich ihr Leben, ihr Schicksal und ihre Ehre in dem Verfahren gegenseitig versprechen. Solche Wahrheiten für selbstverständlich zu halten ist das, was sie erst selbstverständlich macht – und noch ausdrücklicher geschieht dies im Verein mit anderen, bei der Zusammenarbeit.

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