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Japans nukleare Moralgeschichte

NEW DELHI: Die Probleme im Kernkraftwerk Fukushima (und anderen Reaktoren) in Nordostjapan haben der weltweit Atomindustrie, einem mächtigen Kartell aus weniger als einem Dutzend bedeutender staatseigener oder staatlich gelenkter Firmen, die bisher lauthals eine Renaissance der Atomkraft das Wort redeten, einen schweren Schlag versetzt.

Dabei sind die Risiken, denen meeresnahe Reaktoren wie der von Fukushima ausgesetzt sind, bekannt. Offensichtlich wurden sie vor sechs Jahren, als im Dezember 2004 der Tsunami im Indischen Ozean Indiens zweitgrößte Atomanlage überflutete und das Kraftwerk von Madras außer Betrieb setzte.

Weil Kernkraftwerke enorm viel Wasser benötigen, liegen viele von ihnen an der Küste. Doch die Häufigkeit von Naturkatastrophen wie Stürmen, Hurrikanen und Tsunamis nimmt – bedingt durch den Klimawandel, der zudem einen Anstieg des Meeresspiegels verursacht und die meeresnahen Reaktoren daher noch anfälliger macht – zu.

So liegen zum Beispiel viele der Kernkraftwerke an der britischen Küste nur wenige Meter über dem Meeresspiegel. Und 1992 verursachte der Hurrikan Andrew erhebliche Schäden am Kernkraftwerk Turkey Point in der Bucht von Biscayne in Florida, wenn auch zum Glück nicht an betriebskritischen Systemen.

Alle Stromgeneratoren, einschließlich jener in Kohle- und Gaskraftwerken, benötigen viel Wasser. Aber Kernkraftwerke brauchen besonders viel. Den größten Teil des weltweiten Atomstroms produzieren Leichtwasserreaktoren wie der in Fukushima, die Wasser als primäres Kühlmittel einsetzen. Sie benötigen enorme Mengen an lokalem Wasser, das während des Kühlvorgangs erhitzt und dann zurück in Flüsse, Seen oder ins Meer gepumpt wird.

Da Inlandsreaktoren die örtlichen Trinkwasservorkommen stark beanspruchen – und auch Pflanzen und Fische stärker schädigen – versuchen Meeresanrainerstatten mit knappen Wasserressourcen, geeignete Küstenstandorte zu finden. Doch egal, ob sie im Landesinneren oder an der Küste liegen: Kernkraftwerke sind anfällig gegenüber den voraussichtlichen Auswirkungen des Klimawandels.

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Bedingt durch den Anstieg von Durchschnittstemperaturen und Meeresspiegel im Gefolge der globalen Erwärmung werden Inlandsreaktoren zunehmend zum Wassermangel beitragen und auch von ihm betroffen sein. Während der Rekordhitze des Jahres 2003 musste in Frankreich der Betrieb in 17 kommerziellen Atomreaktoren aufgrund steigender Temperaturen von Flüssen und Seen gedrosselt oder ganz eingestellt werden. Der spanische Reaktor in Santa María de Garoña wurde im Juli 2006 für eine Woche heruntergefahren, nachdem im Ebro hohe Temperaturen gemessen wurden.

Paradoxerweise schufen zudem genau die Umstände, die es der Atomindustrie unmöglich machten, 2003 und 2006 die volle Strommenge zu liefern, durch den verstärkten Einsatz von Klimaanlagen bedingte Lastspitzen.

Tatsächlich musste die Électricité de France, die 58 Reaktoren betreibt – die Mehrzahl davon an ökologisch sensiblen Flüssen wie der Loire – während der Hitzewelle 2003 auf dem europäischen Spotmarkt Strom aus benachbarten Ländern einkaufen, und zwar letztlich zum zehnfachen Preis von inländischem Strom. Dabei entstanden dem Staatunternehmen, das normalerweise Strom exportiert, Kosten in Höhe von 300 Millionen Euro.

In ähnlicher Weise waren 2006, obwohl die europäische Hitzewelle jenes Jahres weniger intensiv ausfiel, Deutschland, Spanien und Frankreich gezwungen, wegen Wasser- und Hitzeproblemen einige Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen und den Betrieb in anderen einzuschränken. Zudem sicherten sich die Kraftwerksbetreiber in Westeuropa 2006 Ausnahmegenehmigungen, um trotz bestehender Regelungen ihr zu heißes Kühlwasser in die natürlichen Ökosysteme abzulassen, was sich nachteilig auf die Fischerei auswirkte – ein Beleg für die Anfälligkeit der Kernkraft gegenüber Umweltveränderungen oder Wetterextremen.

Frankreich stellt gern seine Atomindustrie heraus, die 78% des französischen Stroms liefert. Doch der Wasserbedarf der Atomindustrie ist so hoch, dass die EDF Flüssen und Seen jährlich bis zu 19 Milliarden Kubikmeter Wasser entnimmt – rund die Hälfte des französischen Gesamttrinkwasserverbrauchs. Trinkwassermangel ist eine wachsende internationale Herausforderung, und die große Mehrzahl aller Länder ist nicht in der Lage, derart wasserintensive Energiesysteme im Landesinnern zu unterhalten.

Kernkraftwerke am Meer haben bei heißem Wetter keine derartigen Probleme, weil sich das Meerwasser nicht annähernd so schnell erhitzt wie Flüsse und Seen. Und weil diese Kraftwerke Meerwasser nutzen, verursachen sie keinen Trinkwassermangel. Doch wie die japanischen Reaktoren gezeigt haben, sind küstennahe Kernkraftwerke größeren Gefahren ausgesetzt.

Als der Tsunami im Indischen Ozean zuschlug, konnte die Sicherheit des Reaktorkerns in Madras im Abschaltzustand gewährleistet werden, weil die elektrischen Systeme intelligenterweise an einem höheren Standort installiert waren als das Kraftwerk selbst. Und anders als Fukushima, das direkt durch das Erdbeben betroffen wurde, war Madras weit genug weg vom Epizentrum des Bebens, das den Tsunami verursachte.

Das zentrale Dilemma der Kernkraft in einer zunehmend unter Wassermangel leidenden Welt ist, dass sie Wasser verschwendet, zugleich jedoch gegenüber Wasser anfällig ist. Zudem lebt die Atomindustrie Jahrzehnte, nachdem Lewis L. Strauss, der Vorsitzende der amerikanischen Atomenergiebehörde, erklärte, Atomstrom würde „zu billig werden, um seinen Verbrauch zu messen“, noch immer von üppigen Subventionen.

Während die Attraktivität der Kernkraft im Westen erheblich zurückgegangen ist, ist sie unter den „nuklearen Nachzüglern“ gestiegen – was neue Herausforderungen mit sich bringt, u.a. die Besorgnis über die Verbreitung von Atomwaffen. Auch ist es angesichts der Tatsache, dass fast zwei Fünftel der Weltbevölkerung innerhalb von 100 km von einer Küste wohnen, nicht länger einfach, Küstenstandorte für die Errichtung oder Ausweitung eines Atomstromprogramms zu finden.

Fukushima dürfte die Attraktivität der Kernkraft auf eine ähnliche Weise hemmen wie der Unfall im Kraftwerk von Three Mile Island in Pennsylvania im Jahre 1979, von der erheblich schwerwiegenderen Kernschmelze im Reaktor von Tschernobyl 1986 gar nicht zu reden. Doch nimmt man den Fallout dieser Unfälle als Richtschnur, dürften die Fürsprecher der Kernkraft irgendwann wieder Oberwasser gewinnen.

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