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Die systematische Vernachlässigung von Frauen in einer Männerwelt

DEHRADUN – Das Vorhandensein von „Frauenthemen“ ist der schlichten Tatsache geschuldet, dass wir in einer Männerwelt leben. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Mann zum Standard, dem sich Forschung und Politik schwerpunktmäßig widmen, während Initiativen, die Frauen berücksichtigen, „frauenzentriert“ sind. Doch wenn Männer als Standard gelten, wird praktisch kein Aspekt des Lebens von Frauen für Frauen entwickelt oder optimiert. Forschung, die Frauen ausschließt, ist nicht einfach „geschlechtsneutral“ – sie ist „unvollständig“.

Die Folgen können tödlich sein. So ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen bei Autounfällen verletzt werden, um 73% höher als bei Männern und die Wahrscheinlichkeit, dass sie dabei ums Leben kommen, ist um 17% höher. Ein Grund dafür ist, dass die in Crashtests verwendeten Dummys an die Anatomie eines durchschnittlichen Mannes angepasst sind. „Weibliche“ Dummys wurden erst im vergangenen Jahr entwickelt, und es gibt seitens der Aufsichtsbehörden nach wie vor keine Vorschrift, diese in die Forschung zur Fahrzeugsicherheit einzubeziehen.

Persönliche Schutzausrüstung (PSA), wie sie von Beschäftigten im Gesundheitswesen getragen wird, ist ebenfalls für männliche Körper konzipiert, und wird für Frauen allenfalls in einer verkleinerten, nicht aber an den Körperbau angepassten Version angeboten. In einer Umfrage aus dem Jahr 2020 unter britischen Beschäftigten im Gesundheitswesen fanden 44,7% der Frauen, dass PSA-Overalls schlecht sitzen, im Vergleich zu nur 15,3% der Männer. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage in Kanada berichteten mehr als 80% der befragten Frauen über Probleme mit der Schutzkleidung.

Auch die von Polizeibeamten verwendeten „Unisex“-Schutzwesten sind für Männer konzipiert, so dass sie für Frauen sowohl unbequem, als auch mit einer potenziell höheren Verletzungsgefahr verbunden sind, vor allem im Achsel- und Halsbereich. Im Vereinigten Königreich, wo inzwischen 50.000 Frauen als Polizeibeamtinnen tätig sind, wurden erst in diesem Jahr frauenspezifische Schutzwesten eingeführt.

Frauen sind zwar nicht mehr von klinischen Arzneimittelstudien ausgeschlossen, doch sie sind nach wie vor unterrepräsentiert, insbesondere in den frühen Phasen der Studien. Infolgedessen sind Frauen immer noch einem höheren Risiko unerwünschter Nebenwirkungen ausgesetzt, nicht zuletzt, weil die empfohlenen Dosierungen nicht für Frauen optimiert sind. Eine Analyse von Studien, in denen Frauen die gleiche Medikamentendosierung wie Männer erhielten, ergab, dass Frauen in mehr als 90% der Fälle stärkere Nebenwirkungen und mehr unerwünschte Arzneimittelwirkungen aufwiesen.

Diese Analyse rührte aus der Beobachtung her, dass Frauen, die das Schlafmittel Ambien einnahmen, schwerwiegende Nebenwirkungen hatten, darunter eine höhere Rate von Verkehrsunfällen am Morgen danach. Wie die Forscher feststellten, führte die empfohlene Dosis bei Frauen zu einer wesentlich höheren Konzentration im Blut und längeren Ausscheidungszeiten als bei Männern. Die US-Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration empfiehlt nun, dass Frauen die Hälfte der „Standarddosis“ erhalten.

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Erschwerend kommt hinzu, dass die Forschung an Gesundheitsthemen, die in erster Linie Frauen betreffen, in der Regel gar nicht finanziert wird. In fast 75% der Fälle, in denen eine Krankheit hauptsächlich ein Geschlecht betrifft, werden Männer bevorzugt: „Männerkrankheiten“ werden überfinanziert, „Frauenkrankheiten“ werden unterfinanziert.

Auch bei der Bekämpfung von sexueller Gewalt treten die Bedürfnisse von Frauen gegenüber denen von Männern in den Hintergrund. Da Frauen die überwältigende Mehrheit der Opfer solcher Verbrechen sind, wird die Verhinderung sexueller Gewalt ausschließlich als „Frauensache“ behandelt – die für Männer keine Konsequenzen hat, obwohl sie die Mehrheit der Täter ausmachen. Die Maßnahmen sind derart auf die Opfer ausgerichtet – etwa eine Verbesserung der Außenbeleuchtung, die Einrichtung von Notrufnummern und die Schaffung „sicherer Räume“ –, dass nie bei der Quelle der Gewalt angesetzt wird.

Ebenso werden gesundheitsbezogene Daten hauptsächlich von Männern erhoben, was ernsthafte Risiken birgt, da künstliche Intelligenz, die mit solchen Daten trainiert wurde, in der Gesundheitsversorgung eingesetzt wird. Wenn beispielsweise ein Mann über Schmerzen in seinem linken Arm und im Rücken berichtet, wird ihm eine medizinische App – die mit Daten trainiert wurde, die Herz-Kreislauf-Erkrankungen als vorwiegend männliches Problem erkennen – empfehlen, wegen eines möglichen Herzinfarkts Hilfe zu suchen. Dieselbe App könnte vorschlagen, dass eine Frau unter Depressionen leidet und daher keine dringende Behandlung benötigt, obwohl Frauen kaum gegen Herzinfarkt gefeit sind.

KI hat das Potenzial, Frauen auch auf andere Weise zu schaden. Im Jahr 2015 hat Amazon sein KI-Rekrutierungstool wegen Voreingenommenheit gegenüber Frauen abgeschaltet. Das Computermodell hatte „gelernt“, Bewerbungen zu bewerten, indem es Muster in Lebensläufen beobachtete, die in den letzten zehn Jahren eingereicht worden waren – Lebensläufe, die überwiegend von Männern stammten – und bewertete männliche Bewerber besser. Das sollte nicht überraschen, da lediglich 12% der KI-Forscher und 6% der Softwareentwickler Frauen sind. Mehrere andere Unternehmen, die weiterhin KI-Software für die Personalbeschaffung einsetzen, überwachen diese nicht auf geschlechtsbezogene Verzerrungseffekte.

Obwohl es zahlreiche Belege dafür gibt, dass Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter eine wichtige Rolle für den wirtschaftlichen Fortschritt spielen, wird bei Analysen, die sich ausschließlich auf makroökonomische Aspekte des Wachstums konzentrieren, das Geschlecht nicht berücksichtigt. Die Tatsache zu ignorieren, dass Staatsausgaben, Besteuerung und Geldpolitik unterschiedliche Auswirkungen auf Männer und Frauen haben, kann zu fehlerhaften wirtschaftlichen Einschätzungen führen und die Wirksamkeit von Maßnahmen und die Genauigkeit von Prognosen untergraben.

So wird etwa die unbezahlte Sorgearbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird, in der makroökonomischen Politik nicht berücksichtigt. Aufgaben wie Kochen, Putzen, Wasserholen und die Versorgung von Kindern und älteren Menschen haben einen beträchtlichen wirtschaftlichen Wert, der Schätzungen zufolge zwischen 10 und 60% des BIP entspricht. Als Ergebnis einer geschlechtsblinden Analyse sind Frauen überarbeitet und unterbezahlt. Die Erhöhung des Anteils von Frauen an der Erwerbsbevölkerung muss mit Maßnahmen einhergehen, die diese unbezahlte Arbeit reduzieren und umverteilen.

Betrachten wir die Debatte über die wirtschaftlichen Aussichten Indiens. Nachdem Indien China unlängst als bevölkerungsreichstes Land abgelöst hat, prognostizieren einige Analysten, dass es China auch beim Wirtschaftswachstumüberholen wird. Wie Ashwini Deshpande und Akshi Chawla erläutern, funktioniert das jedoch nur, wenn sich der Bevölkerungszuwachs in der Erwerbsbevölkerung widerspiegelt, und in Indien begrenzt die niedrige Erwerbsbeteiligung der Frauen diesen Effekt.

Das Geschlecht spielt in unzähligen anderen Politikbereichen eine entscheidende Rolle, auch bei der größten Herausforderung unserer Zeit: dem Klimawandel. Wie bei den meisten anderen Problemen, die in den Zielen für nachhaltige Entwicklung thematisiert werden, sind Frauen auch von den Auswirkungen der globalen Erwärmung, einschließlich klimabedingter Katastrophen, unverhältnismäßig stark betroffen.

Wenn die Hälfte der Weltbevölkerung als Anhängsel behandelt wird, ist die Forschung weniger genau, die Politik weniger wirksam und das menschliche Wohlergehen wird beeinträchtigt. Das wird sich erst ändern, wenn die ausdrückliche Berücksichtigung von Frauen in allen Bereichen der Forschung, des Produktdesigns, der Technik und der Politik zum Normalfall wird.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

https://prosyn.org/ccbqjDsde