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Wenn Menschen nichts zu verlieren haben, wird es gefährlich

NEW YORK – Präsidenten, Generäle, Diktatoren und auch ganz normale Menschen gehen große Risiken ein, wenn sie nichts mehr zu verlieren haben. Insofern ähneln sie einem Quarterback beim American Football, der einen sogenannten „Hail-Mary-Pass“ wirft. Doch sind die Folgen einer derartigen Strategie in Politik, Krieg und Wirtschaft gewöhnlich schwerwiegender als das Ergebnis eines Football-Spiels. Im Nahen Osten etwa hat sie für kontinuierliche Konflikte gesorgt, weil die Krieg führenden Parteien das Gefühl haben, sie hätten nichts zu verlieren.

Der alljährliche Börsenwettbewerb der Broker-Firma TD Ameritrade illustriert die Anreize, die bestehen, wenn man „nichts zu verlieren hat“. Jedes Team erhält dabei zu Beginn eine fiktive Summe von 500.000 Dollar, und der letztliche Geldpreis geht an das Team, das mit seinem Portfolio innerhalb eines Monats den höchsten Profit macht. Die Studenten der Southeast Missouri State University besiegten 2015 475 andere Teams, indem sie ihre 500.000 Dollar in 1,3 Millionen Dollar verwandelten. Keiner der siegreichen Studenten wusste auch nur das Geringste über die Finanzwelt. Wie also haben sie das geschafft? Laut dem Teamkapitän so: „Wir hatten nichts zu verlieren. Wenn wir also die gesamten 500.000 Dollar in den Sand gesetzt hätten, wäre das auch egal gewesen. Wir entschlossen uns im Wesentlichen, volles Risiko zu gehen.“

Dieser Alles-oder-nichts-Ansatz schlachtete die Regeln eines Wettbewerbs aus, bei dem nur der größte Gewinn belohnt, alle Verluste aber ignoriert wurden. Die Studenten waren gegen Geldverluste abgesichert; also planten sie ihre Strategie entsprechend. Diese Anekdote mag trivial klingen, doch folgen die Protagonisten in realweltlichen Konflikten häufig derselben Logik.

So kann es im Krieg katastrophale unbeabsichtigte Folgen haben, eine „bedingungslose Kapitulation“ anzustreben. Als US-Präsident Franklin D. Roosevelt diese politisch populäre Forderung während des Zweiten Weltkrieges erhob, äußerte der Propagandaminister der Nazis, Joseph Goebbels, gegenüber Hitler, dass die Deutschen jetzt „nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen“ hätten, indem sie den Kampf fortsetzten.

General Dwight D. Eisenhower, der Oberkommandierende der Alliierten in Europa und künftige US-Präsident, stimmte Goebbels zu. Im November 1944 warnte er die gemeinsamen Stabschefs in Washington, D.C., der „anhaltende sture Widerstand des Feindes“ beruhe teilweise auf der „Nazi-Propaganda, die alle Deutschen überzeugt, dass die bedingungslose Kapitulation die völlige Verheerung Deutschlands und seine Auslöschung als Nation bedeutet“.

Hitler stützte sich auf diese Auslegung, um seine Truppen zu einem verzweifelten Gegenangriff im Dezember 1944 (der Ardennenoffensive) zu motivieren; er beschrieb sie im Vorfeld als „eine Art Hunnenschlacht, in der ihr entweder steht, oder fallt und sterbt“. Hitlers Spielzug – sein Hail-Mary-Pass – änderte am Ausgang des Krieges nichts mehr; dieser war bereits verloren. Aber er brachte die schlimmste Gräueltat hervor, die in Europa an US-Soldaten begangen wurde: das Massaker in der belgischen Stadt Malmedy.

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Eine ähnliche Einstellung treibt die unablässigen Kriege zwischen Israel und Palästina an. Als die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir 1973 Joe Biden traf, den damals neu gewählten US-Senator aus Delaware, um die Sicherheit Israels zu diskutieren, sagte sie: „Schauen Sie nicht so besorgt drein … Wir Israelis haben eine Geheimwaffe. Wir können sonst nirgendwo hin.“

In jüngerer Zeit hatte Israel das Gefühl, es habe im Kampf gegen die Hamas nichts zu verlieren, weil die Gründungscharta der Organisation dem jüdischen Staat das Existenzrecht abspricht. Artikel 11 der Charta beginnt wie folgt: „Die Islamische Widerstandsbewegung glaubt, dass Palästina allen Generationen der Muslime bis zum Tag des Jüngsten Gerichts als islamisches Waqf-Land vermacht ist. Palästina darf weder als Ganzes noch in Teilen aufgegeben werden.“ Und Artikel 13 versperrt die Tür zum Frieden vollständig: „[S]ogenannte friedliche Lösungen und internationale Konferenzen zur Lösung der Palästina-Frage stehen im Widerspruch zur Ideologie der Islamischen Widerstandsbewegung.“

Doch muss sich Israel zugleich mit Palästinensern auseinandersetzen, die lediglich einen eigenen Staat anstreben und nicht die Zerstörung Israels. Wie Riyad Mansour, der palästinensische Beobachter bei den Vereinten Nationen, in Reaktion auf den jüngsten Konflikt in Gaza im vergangenen Mai angemerkt hat, ist Israel „damit gescheitert, das palästinensische Bewusstsein zu besiegen und unserer Gefühl nationaler Zugehörigkeit zu brechen … Wir alle stehen an einem Scheideweg.“

Zugleich schrieb die frühere israelische Vize-Ministerpräsidentin und Justizministerministerin Tzipi Livni: „Die Zwei-Staaten-Lösung  … scheint wichtig wie eh und je. Auch wenn der Frieden nicht um die Ecke wartet. Der Punkt, wo es kein Zurück mehr gibt, ist näher denn je zuvor. Wir dürfen diesen Weg nicht einschlagen. Das Wichtigste ist derzeit, die Straße offen zu halten.“

Anders ausgedrückt: Man hüte sich vor Feinden, die nichts zu verlieren haben.

Martin Luther King, Jr. äußerte etwas über ein Jahr vor seiner Ermordung in Memphis eine ähnliche Idee zur Vermeidung einer bewaffneten Revolution:

„Ausschreitungen erwachsen aus nicht hinnehmbaren Bedingungen. Gewaltsame Revolten werden durch abscheuliche Bedingungen geschaffen, und es gibt nichts Gefährlicheres, als eine Gesellschaft aufzubauen, in der ein großes Segment der Bevölkerung das Gefühl hat, davon ausgeschlossen zu sein und nichts zu verlieren zu haben.“

In einer von neuen und alten Nullsummenkonflikten heimgesuchten Welt bleibt diese Lehre aktuell wie eh und je.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/QhJgeAYde