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Berlin im machtpolitischen Treibsand

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Während Europa in der Finanzkrise versinkt und allenthalben Regierungen scheitern oder abgewählt werden, scheint Deutschland wirtschaftlich und politisch eine Insel der Prosperität und Stabilität zu sein. Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, verkörpert diese neue Stärke des alten europäischen Problemkindes in der Mitte des Kontinents, bewundert von den Einen und gehasst von den Anderen.

Und mitten in dieser Krise, die überall stattzufinden scheint, nur nicht in Deutschland, wird Bundespräsident Christian Wulff, zugleich der Kandidat von Angela Merkels Gnaden, auf Grund eigener Fehler als niedersächsischer Ministerpräsident und passend zum Höhepunkt des Karnevals zum Rücktritt gezwungen. Am vergangenen Sonntag, als die Katholiken im Westen und Süden Deutschlands Fasching feierten, übernahmen nun im fernen Berlin endgültig die Protestanten aus Ostdeutschland die Macht im Lande.

In Zukunft wird das vereinigte Deutschland einen protestantischen Pfarrer als Staatsoberhaupt haben und von einer protestantischen Pfarrerstochter regiert werden. Dies ist, da die Religion im öffentlichen Leben Deutschlands, so es sich nicht um Muslime handelt, kaum noch eine Rolle spielt, für die breitere Öffentlichkeit weniger von Belang, in der regierenden Mehrheitspartei CDU und vor allem in ihrer bayrischen Schwesterpartei CSU, dafür umso mehr.

Beide Parteien sind die Nachfolger des katholischen Zentrums des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, entstanden im Kampf gegen die protestantische Vorherrschaft im Preußen und damaligen Reich Bismarcks. Sie waren mit ihrer (west- und süddeutschen) katholischen Mehrheit seit  Adenauers Zeiten die Staatspartei der bundesdeutschen Nachkriegsrepublik gewesen. Und jetzt diese Doppelspitze! In den christlich-katholischen Unionsparteien wird es daher noch kräftig rumoren. Freilich ist dies nur unschön, aber nicht wirklich gefährlich für die Kanzlerin.

Wirklich gefährlich an der aktuellen Präsidentenkrise und ihrer Lösung wird für sie jedoch etwas anderes, nämlich die machtpolitischen Kalkulationen, die den Präsidentschaftskandidaten Joachim Gauck erst möglich gemacht haben.

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In der Regel ist die Wahl des Bundespräsidenten keineswegs eine Angelegenheit minderen machtpolitischen Ranges, sondern war in der Geschichte der Bundesrepublik ganz im Gegenteil zumeist hoch politisch. Denn bei dieser Wahl wurden die Verschiebungen der Mehrheiten im Bund zuerst sichtbar, ein „Frühindikator“ für neue Mehrheiten also. Insofern sind die Mehrheiten in der Bundesversammlung, die den Bundespräsidenten wählt, nicht nur hoch symbolisch, sondern zugleich machtpolitische Weichenstellungen von größter Bedeutung.

Hinzu kommt die bundesdeutsche Verfassungswirklichkeit. Der Kanzler wird von einer Mehrheit im Parlament und nicht direkt vom Volk gewählt. Und er kann dort nur konstruktiv abgewählt werden, indem sich eine Mehrheit für einen neuen Kandidaten findet. Das macht alle Mehrheiten gegen einen regierenden Kanzler so hoch dramatisch, weil sich darin sein Machtverfall widerspiegelt und dies gilt ganz besonders dann, wenn sich diese Mehrheit in einer zentralen Personalfrage, worum es sich beim Amt des Bundespräsidenten zweifellos handelt, gegen einen regierenden Kanzler zusammenfindet. So geschehen am Faschingssonntag, dem 19. Februar 2012.

Bis zum vergangenen Wochenende schien die Kanzlerin auf festem machtpolitischem Granitboden zu stehen. Sie ist international hoch angesehen, befindet sich innenpolitisch an der Spitze der Umfragenbeliebtheit, steht innerparteilich ohne Rivalen da, und mochte ihr Koalitionspartner FDP auch mittlerweile bei 2 Prozent angelangt sein, so liegen CDU/CSU immer deutlich vor der SPD, und das linke Lager ist in vier Parteien gespalten, von denen zwei nicht regierungsfähig sind.

Mochte ihre Koalition also bei oder auch vor der nächsten Bundestagswahl scheitern, das Kanzleramt konnte ihr niemand ernsthaft streitig machen, schon gar nicht in einer erneuten großen Koalition mit der SPD. Scheinbar gab es keine Mehrheit gegen Angela Merkel. Scheinbar ...

Dies war eine krachende Fehlkalkulation und unterschätzte die wachsende Überlebenspanik bei ihrem siechen Koalitionspartner. Seit Faschingssonntag und der überparteilichen Ausrufung Joachim Gaucks zum Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten hat sich für die Kanzlerin der feste Granit, auf dem sie unerschütterlich zu stehen schien, in machtpolitischen Treibsand verwandelt. Was war geschehen?

Ganz einfach, ihr Koalitionspartner FDP ist ihr von der Fahne gegangen und hat in einer entscheidenden Frage das Lager in Richtung Rot-Grün gewechselt. Und plötzlich war sie wieder da, die machtpolitische Magie der Bundespräsidentenwahl, in Gestalt einer neuen Mehrheit! Merkel hatte unversehens eine neue Mehrheit gegen sich und stand vor der Alternative, entweder einzuknicken oder die Koalition aufzukündigen. Sie entschied sich für den zähneknirschenden Kniefall. Doch der Bruch in der Koalition ist nicht mehr zu übertünchen.

Die erneute Kandidatur Gaucks wurde von einer Ampelmehrheit (Rot, Grün, Gelb) durchgesetzt, die entgegen aller wortreich vorgetragenen gegenteiligen Versicherungen nur durch die machtpolitischen Kalküle der beteiligten Parteien herbeigeführt worden war, in deren Schnittpunkt sich eben Joachim Gauck befand. Das macht die Angelegenheit für die Kanzlerin jedoch nur noch gefährlicher. Denn so sieht in der Regel der Beginn des Machtverfalls eines Bundeskanzlers und der ihn tragenden Mehrheit in der deutschen Verfassungswirklichkeit aus.

Das Vertrauen zwischen den Koalitionsparteien im Regierungslager ist dahin. Die Kanzlerin und ihre Koalition stecken seit Sonntag tief im Treibsand. Ob die Liberalen mit ihrem Manöver Erfolg haben und sich über die 5 Prozent Hürde werden retten können, oder ob sie aus Angst vor dem Tode Selbstmord begangen haben, wird man nach den Landtagswahlen in diesem Frühjahr wissen. Wenn sie sich retten können, wird die FDP Richtung Ampel marschieren, so es für eine bürgerliche Mehrheit nicht mehr reicht (was hoch wahrscheinlich ist!), und das könnte Merkel 2013 die Kanzlerschaft kosten.

Deswegen aber werden die Unionsparteien keinerlei Rücksicht mehr auf ihren siechen Koalitionspartner nehmen. Angela Merkel bleibt nach der Wahl im Herbst 2013 nur die Rolle der stärksten Partei in einer Großen Koalition, wenn sie das Kanzleramt für sich und ihre Partei verteidigen will, und dafür braucht sie jede Stimme des bürgerlichen Lagers. Mal sehen, wer im machtpolitischen Treibsand Berlins versinken und wer wieder festen Boden unter den Füßen bekommen wird. Für Angela Merkel wird es fortan ernst, sehr ernst. Die Krise hat Deutschland erreicht. 

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