Der politische Aktienmarkt

Viele Wirtschafts- und Finanzanalysten beklagen, dass die Aktienmärkte von Schwellenländern oftmals stark von ihren Regierungen manipuliert würden und eher politisch als konjunkturell seien. Im Gegensatz dazu scheint bei Aktienmärkten in Industrienationen unausgesprochen die Annahme zu bestehen, dass diese von einer ursprünglichen Kraft wirtschaftlicher Natur getrieben werden und eine Prognose ihrer Wertentwicklung demnach mit einer Wachstumsprognose für Bäume vergleichbar ist.

Diese Beschreibung von Aktienmärkten in Entwicklungsländern ist nicht falsch, nur voreingenommen, weil die gleiche Beschreibung für Börsen in Industrieländern gilt. Die besten Analysten wissen, dass eine Prognose der Wertentwicklung des Aktienmarktes eines jeden Landes im Wesentlichen bedeutet vorauszusagen, wie gut es Investoren an der Börse dem Willen der Regierung nach im aktuellen politischen Umfeld ergehen soll.

Nehmen wir den Aktienmarkt der Vereinigten Staaten, den mit Abstand größten der Welt. Der allgemeinen Auffassung nach bleiben Unternehmen von der Regierung unbehelligt und die Renditen auf Kapitalanlagen an der US-Börse reflektieren die grundlegenden Kräfte eines starken kapitalistischen Wirtschaftssystems. Dies ist einer der Gründe, warum die USA eine magnetische Anziehungskraft auf Portefeuille-Investoren aus aller Welt ausübt.

Doch die Gewinne, die die amerikanischen Börsenmärkte so attraktiv sein lassen, sind Ausdruck eines empfindlichen politischen Gleichgewichts. Insbesondere Steuersätze, die Aktien beeinflussen, haben unter sich veränderndem politischem Druck im Lauf der Zeit variiert. So hat etwa während des Zweiten Weltkrieges die politische Unterstützung für große Vermögen nachgelassen und die Regierung hat die Steuern auf Kapitalgewinne, Dividenden und hohe Einkommen im Allgemeinen drastisch erhöht. Als der Zweite Weltkrieg gründliche Erholung von der Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre brachte, erhoben Präsident Roosevelt und der Kongress eine Steuer auf übermäßige Gewinne, um dafür zu sorgen, dass Aktionäre nicht zu sehr profitieren würden.

Im Jahr 1980 hingegen, als es keinen Krieg gab, die Börse sich aber in einer Talsohle befand, wählten die US-Wähler Ronald Reagan, einen Mann, den viele für zu sehr dem rechten Flügel angehörig hielten, um Präsident zu sein. Er forderte - und erreichte - Steuersenkungen auf Kapitalgewinne, Dividenden und Einkommen.

Politische Einmischung in den Aktienmarkt beschränkt sich nicht allein auf Steuern auf Kapitalgewinne, Dividenden und Einkommen. Vermögensteuer, Verbrauchsteuer, Einfuhrzölle und Umsatzsteuer - die allesamt direkt oder indirekt von Unternehmen bezahlt werden - können in erweitertem Maß auf Unternehmensgewinne und somit den Aktienmarkt wirken. Wo auch immer Aktienmärkte florieren ist es kein Zufall, dass Regierungen dafür sorgen diese Steuern keinesfalls so weit reichen zu lassen, Unternehmensgewinne nach Abzug von Steuern zunichte zu machen.

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Die Politik der Aktienmärkte hört bei den Steuern nicht auf. Im Gegenteil, beinahe jede Regierungsaktivität wirkt sich auf Unternehmensgewinne und im Gegenzug auf den Aktienmarkt aus.

Nach dem Börsenkrach im Jahr 1929 setzte die US-Regierung viele Aktivitäten der Kartellbehörden aus und ermöglichte es Unternehmen Monopolmacht zu erlangen, die ihren Wert steigern würde. Diese Politik verzögerte die Erholung von hoher Arbeitslosigkeit, doch sogar das reichte nicht aus, um die politischen Kräfte im Zaum zu halten, die zu Gunsten der Unterstützung des Aktienmarktes mobilisiert wurden.

Ebenso war es eines der wichtigsten Dinge, die Präsident Reagan getan hat, weite Teile der verbleibenden Macht der amerikanischen Gewerkschaften zu zerstören, die um ihr Stück am Unternehmenskuchen kämpfen. Reagans Zerschlagung des Fluglotsenstreiks von 1981 war ein Wendepunkt für die amerikanische Gewerkschaftsbewegung - und für den Aktienmarkt, dessen spektakuläre Börsenhausse im Jahr 1982 ihren Anfang nahm.

Seit die spekulative Aufblähung der Aktienkurse im Jahr 2000 ihren Höhepunkt erreichte, hat die US-Regierung den Aktienmarkt besonders energisch unterstützt, insbesondere durch wiederholte Senkung der Zinssätze. Öffentlich wurde dies natürlich als Maßnahme zur Stimulierung der Wirtschaft gerechtfertigt, nicht zur Stützung des Aktienmarktes. Es ist jedoch ein aufschlussreicher Hinweis auf die Bedeutung der US-Börse, dass der Aktienkursverfall für einen der wichtigsten Faktoren gehalten wurde, der auf der Wirtschaft lastete.

Die Reaktion der Behörden beschränkte sich nicht auf monetäre Stimulationsmaßnahmen. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der USA zeigt, dass der effektive Steuersatz auf Unternehmensgewinne (der Prozentsatz der Profite, der tatsächlich in Form von Steuern an die Regierung gezahlt wird) seinen Höhepunkt bei 33,7% im ersten Quartal des Jahres 2000 erreichte - dem Höchststand des Aktienmarktes und der Konjunktur im Allgemeinen - um im vierten Quartal 2003 auf 20,2% fiel, als der Markt einen Tiefpunkt hatte. Dieser Rückgang spiegelt zum großen Teil deutliche, vom Kongress befürwortete Maßnahmen zur Steuervergünstigung wieder, sowie die Auffassung von Unternehmen, dass sie Steuern im aktuellen wirtschaftlichen und politischen Umfeld aggressiver ausweichen können.

Hinzukommt, dass die maximale Steuer auf Dividenden aus Aktien nach dem Börsencrash von 35% auf 15% gesenkt wurde, was langfristigen Investoren einen wesentlichen neuen Vorteil verschaffte und den Zinseszinseffekt bei Wiederanlage der Dividenden nach Steuern verstärkte. Auch diese Steuersenkung wurde als Konjunkturanreiz gerechtfertigt, was man natürlich von praktisch jeder Maßnahme behaupten kann, die darauf abzielt den Aktienmarkt zu stützen. Es ist jedoch die Ausgewogenheit politischer Kräfte, die über die Glaubwürdigkeit einer solchen Rechtfertigung entscheidet.

Man könnte sagen, dass die gleichen Variablen, einschließlich der ablehnenden Haltung gegenüber hohen Steuern und der schwachen Gewerkschaftsbewegung, in den USA seit den letzten 200 Jahren am Werk sind - und man somit davon ausgehen kann, dass sie dies auch in Zukunft sein werden, und dabei hohe Börsengewinne erzeugen und enorme Kapitalzuflüsse ausländischer Investitionen anziehen. Diejenigen, die meinen, dass Investitionen in den US-Aktienmarkt den gleichen starken Wachstumstrend jahrzehntelang beibehalten werden, könnten durchaus Recht haben. Man sollte sich jedoch darüber im Klaren sein, was man prognostiziert. Im Grunde sagt man nicht nur wirtschaftliche Entwicklungen voraus, sondern Politik - und sogar die kulturellen Werte - die Wirtschaftspolitik und -leistung prägen.

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