Der Marsch in die Barbarei

Als eine Folge des Irak-Krieges wird (wieder einmal) die trügerische Trennlinie zwischen „zivilisierten" und „barbarischen" Ländern offenbar. Wie die Misshandlungen im Abu-Ghraib-Gefängnis klar zeigten, sind die Vereinigten Staaten wie jedes andere Land auch zur Barbarei fähig. Vielfach wird von dieser Barbarei im Irak keine Notiz genommen, wenn beispielsweise amerikanische Panzer in irakische Wohngegenden einfallen und Dutzende unschuldige Menschen im Namen des Kampfes gegen die „Aufständischen" töten. Die Barbarei ist allerdings an vielen Orten zu finden, wie auch die grässliche Enthauptung einer amerikanischen Geisel deutlich machte.

Unter gewissen Voraussetzungen ist jede Gesellschaft anfällig, in die Barbarei zu versinken. Zahlreiche Historiker sind der Meinung, dass die deutsche Gesellschaft unter Hitler einzigartig böse war. Falsch. Die Niederlage im Ersten Weltkrieg, der drakonische Friedensvertrag aus dem Jahr 1919, die Hyperinflation in den 1920er Jahren und die Große Depression in den 1930er Jahren destabilisierten Deutschland, das ansonst nicht einzigartig barbarisch war. Ganz im Gegenteil: Im frühen 20. Jahrhundert war Deutschland eines der reichsten Länder der Welt, mit einem beneidenswert hohen Bildungsstandard und einer fortgeschrittenen Wissenschaft. Hannah Arendt kam der Sache schon näher, als sie von der „Banalität des Bösen" schrieb und nicht von seiner Einzigartigkeit.

Der Abstieg in die Barbarei scheint von zwei Merkmalen gekennzeichnet zu sein. Erstens die unabwendbare Neigung des Menschen, die Welt in „Wir" und „die Anderen" einzuteilen, und den „Anderen" dabei das Menschsein abzusprechen. Derartige Klassifizierungen entwickelten sich wahrscheinlich deshalb, weil damit der Zusammenhalt in der Gruppe gefördert wurde. Durch das Schüren des Hasses auf die Außenstehenden wurde wiederum die Zusammenarbeit in der Gruppe erleichtert.

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