Putin hat die Wahl

BRÜSSEL – Wladimir Putins Rückkehr in den Kreml als Präsident Russlands war stets eine ausgemachte Sache. Wenn er aber am 7. Mai seinen Amtseid ablegt, wird er formell die Verantwortung für ein Land übernehmen, dessen Politik – ebenso wie Putins eigene politische Zukunft – unvorhersehbar geworden ist.  

Nach seiner Zeit als Ministerpräsident, während der er defacto die Kontrolle ausübte, sollte Putins Rückkehr in das Präsidentenamt die beruhigende Fortsetzung des „business as usual“ signalisieren  – nämlich eines starken, geordneten Staates, der ohne die potenziell destabilisierenden Auswirkungen einer Mehrparteiendemokratie und streitender Politiker auskommt. 

Nun aber haben die Menschen in Russland dem Status quo den Kampf angesagt. Ihre Reaktion auf Putins Plan – von der Ankündigung im letzten September, dass Präsident Dmitri Medwedew seinem Mentor den Platz überlassen würde bis hin zu den zutiefst fragwürdigen Parlaments- und Präsidentenwahlen – sowie ihr aufgestauter Ärger über die massive Bereicherung der Spießgesellen des Kremls setzen Putin und das von ihm geschaffene Regierungssystem der reinen Machtausübung von oben unter Druck.   

Wie der gewiefte Politiker Putin auf diesen Druck reagiert, wird sein politisches Vermächtnis bestimmen. Und die Reaktion des Westens auf Putins Rückkehr in das Präsidentenamt könnte gravierende Auswirkungen darauf haben, ob er liberalisierende Reformen durchsetzt und damit politisch überlebt oder seinen KGB-geschärften autoritären Instinkten nachgibt und weitere Proteste provoziert.  

Nichts illustriert die Misere Russlands unter Putin besser als der Fall Sergej Magnitskis, eines Rechtsanwaltes in Diensten eines britischen Investmentfonds. Er deckte massiven Steuerbetrug und vermutlich weitreichende Absprachen unter den Behörden auf. Als Dank für die Aufdeckung dieser Delikte wurde er verhaftet und misshandelt, bis er unter mysteriösen Umständen starb. Die russischen Behörden setzen in grotesker Weise seine strafrechtliche Verfolgung posthum ebenso weiter fort wie die Steuerbetrügereien, denen er auf die Spur kam.

Der Kongress der Vereinigten Staaten diskutiert nun eine Gesetzesvorlage, in der Vermögenssperren sowie ein Einreiseverbot für jene 60 Personen vorgesehen sind, die für die Verhaftung und den Tod Magnitskis teilweise Verantwortung tragen. Zahlreiche Befürworter dieses Gesetzes treten dafür ein, dass es an die Stelle der so genannten Jackson-Vanik-Klausel tritt, eines Gesetzes aus der Zeit des Kalten Krieges, das den Handel der Vereinigten Staaten mit Russland einschränkte – und dessen Außerkraftsetzung die Regierung Obama vorantreibt. Eine derartige Änderung wäre doppelt vorteilhaft: Man würde einerseits den Handel beleben und andererseits die Verantwortlichen für ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen.

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Unterdessen verabschiedete auch das britische Unterhaus eine der amerikanischen Gesetzesvorlage ähnliche Resolution. London ist eine der Lieblingsdestinationen reicher Russen und die britische Regierung erwägt nun, eine derartige Initiative zu unterstützen, obwohl es Hinweise gibt, dass man eine inoffizielle und unveröffentlichte Liste der unter Einreiseverbot stehenden Personen unterhalten will, um möglichen Anfechtungen zuvorzukommen. In Ottawa forderte das kanadische Parlament vergleichbare Maßnahmen, einschließlich des Einfrierens der Vermögen von Personen, die für Magnitskis Tod verantwortlich sind. Auch das Europäische Parlament äußerte sich in diesem Sinne und forderte alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf, gemeinsam aktiv zu werden.

Die Einführung derartig zielgerichteter Sanktionen wäre ein eindeutiges Signal dafür, dass der Westen im Hinblick auf seine Grundwerte zu keinerlei Zugeständnissen bereit ist – Werte, die Putins Russland zu teilen behauptet. Außerdem würde man damit einen Präzedenzfall schaffen, der auf alle diejenigen in Russland und anderen Ländern angewendet werden könnte, die regelmäßig Menschenrechte – und dabei nicht nur Rechte im Zusammenhang mit physischer Unversehrtheit - verletzen.

Ebenso könnten derartige Maßnahmen auch bei denjenigen zur Anwendung kommen, die das Grundrecht auf ein rechtsstaatliches Verfahren, wie etwa das Recht auf ein gerechtes Gerichtsverfahren missbrauchen. Damit würde man die Aufmerksamkeit auf den bekannten Fall des früheren Ölmagnaten Mikhail Chodorkowski lenken, den lediglich seine politische Ambitionen ins Gefängnis brachten und der nach einem zweiten Verfahren von Amnesty International zum politischen Gefangenen erklärt wurde. 

Überdies könnten diese Maßnahmen auch den Missbrauch von Häftlingsrechten einschließen, wie dies etwa im Fall des ehemaligen Rechtsberaters Chodorkowskis, Wassili Alexanjan, geschah. Ihm wurde im Gefängnis die Behandlung seiner HIV-Infektion verwehrt und erst nach der Intervention des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wurde er freigelassen. Medwedews Ankündigung einen Tag nach der Wahl Putins am 5. März, wonach der Fall Chodorkowski überprüft werden soll, ist ein hoffnungsvoller Anfang.

Die Verhängung von Reisebeschränkungen über Verdächtige im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen ist ein vernünftiger und praktischer Schritt vorwärts. Damit würde man zeigen, dass es dem Westen nicht um die Bestrafung Russlands oder der Russen im Allgemeinen geht, sondern lediglich jener Personen, zu deren Rolle bei Menschenrechtsverletzungen der Westen über hinreichend Beweise verfügt. Außerdem würde man Russland an seine internationalen rechtlichen Verpflichtungen erinnern, vor allem als Mitglied der OSZE und des Europarates, dem  47 Mitgliedsländer angehören, unter denen sich Russland und andere Länder befinden, die sich über einige ihrer Konventionen hinwegsetzen.

In der Vergangenheit vermarktete sich Putin erfolgreich als starker Mann, als Inbegriff der Stabilität und Garant gegen das Chaos. Mittlerweile allerdings, da die Mittelschicht des Landes auf die Straße geht, um gegen die Korruption und Ineffizienz seiner Herrschaft zu protestieren, wurde Putins Regierungsstil zu Russlands primärer Quelle der Instabilität. Der Westen hat nun die Gelegenheit – und die Verpflichtung – Putin davon zu überzeugen, dass es zum Schutz seiner eigenen Interessen tiefgreifender und permanenter demokratischer Reformen in Russland bedarf, angefangen mit einem eindeutigen Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit. Und Putin hat zu Beginn seiner dritten Amtszeit als Präsident die seltene Gelegenheit, seinen zutiefst ramponierten Ruf wiederherzustellen.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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