Johannes Paul der Modernisierer

Der Tod von Papst Johannes Paul II. kam nicht unerwartet und sein immenser Einfluss auf die moderne Welt wird von allen beurteilt und kommentiert werden, die glauben, dazu etwas sagen zu können. Bevor wir uns einem der weniger bekannten Aspekte seiner Lehre zuwenden, ist jedoch zu betonen, dass eine der Behauptungen, die momentan allenthalben zu hören sind, entweder auf Dummheit oder Unverständnis darüber zurückzuführen ist, worum es in der Katholischen Kirche geht: Der Vorwurf, der Papst wäre „konservativ“ gewesen, ist Unsinn.

Johannes Paul II. war zweifellos konservativ, wenn es um katholische Dogmen ging, aber die Institution der Katholischen Kirche beruht auf den Zehn Geboten und Dogmen, die nicht veränderlich sind. Wahrhaftigkeit und Treue gegenüber den Grundprinzipien der kirchlichen Lehre können nicht als konservative Eigenschaften bezeichnet werden.

In Wirklichkeit wurde Johannes Paul II. deshalb als „konservativ“ bezeichnet, weil er sich gegen die Abtreibung und andere progressive Ideen aussprach. Wenn man allerdings einen Papst möchte, der für die Abtreibung eintritt, möchte man auch eine andere Kirche. Manche Dinge, manche Werte, die den Glauben und die Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche bestimmen, sind weder konservativ noch liberal oder progressiv – sie sind elementar, unabdingbar und unveränderlich.

Johannes Paul II. verfolgte ein spezielles Ziel, dem er sich während seines beinahe 27-jährigen Pontifikats widmete: Die Veränderungen der Lehre und der Positionen der Katholischen Kirche zu Ende zu bringen, die durch das Zweite Vatikanische Konzil vor über vierzig Jahren in Gang gesetzt wurden. Davor hatte die Katholische Kirche beinahe zwei Jahrhunderte verloren (das 18. und das 19.), weil sie sich weigerte, die Veränderungen auf der Welt zur Kenntnis zu nehmen und zu akzeptieren, dass soziale und wirtschaftliche Fragen zu den drängendsten überhaupt gehören, dass die Moderne passiert.

Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil begannen sich in der Kirche die Dinge zu verändern und in dieser Hinsicht war die Bedeutung Johannes Paul II. enorm. Eine der Fragen, welche die Kirche in beinahe drei Jahrhunderten nicht zufrieden stellend beantworten konnte, war die nach ihrer Haltung gegenüber Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kirche versuchte mit allen Mitteln eine unmissverständliche Zustimmung zum Kapitalismus zu vermeiden.

Nachdem Leo XIII. – in seiner berühmten Enzyklika Rerum Novarum - im Jahr 1891 zum ersten Mal feststellte, dass es solche Menschen wie Arbeiter und ernsthafte soziale Probleme gibt, versuchte Pius XI. in einer anderen Enzyklika, nämlich Quadrogesimo Anno aus dem Jahr 1931, aufzuzeigen, welcher ökonomische Ansatz sich in Übereinstimmung zum katholischen Glauben befindet. Er war für ein korporatistisches System und manche seiner Anhänger sprachen von einem „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das einzige Land, das diesen Weg mit einigem – obgleich zweifelhaftem – Erfolg einschlug war Salazars Portugal.

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Als daher einhundert Jahre nach Leo XIII., Johannes Paul II. seine Enzyklika Centesimus Annus veröffentlichte, rechnete niemand damit, dass die Kirche zum ersten Mal in ihrer Geschichte die freie Marktwirtschaft und den Kapitalismus bejahen würde. Die Worte des Papstes sind jedoch klar und unmissverständlich: „Sowohl auf der Ebene der einzelnen Nationen als auch auf jener der internationalen Beziehungen scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Nutzung der Ressourcen und die effektivste Art der Erfüllung der Bedürfnisse zu sein. Das gilt allerdings nur für jene Bedürfnisse, die insofern „zahlungsfähig“ sind als sie über eine Kaufkraft verfügen, und für jene Ressourcen, die insofern „marktfähig“ sind als sie einen angemessenen Preis erzielen können. Der Papst fügte allerdings hinzu: „Es gibt aber unzählige menschliche Bedürfnisse, die auf dem Markt keinen Platz haben”.

In dieser Enzyklika findet sich auch eine grundlegende Feststellung zur Idee des Gewinnes. „Die Kirche anerkennt die berechtigte Funktion des Gewinnes als Indikator für die Funktionstüchtigkeit des Unternehmens. Wenn ein Unternehmen mit Gewinn produziert, bedeutet das, die Produktionsfaktoren werden sachgemäß eingesetzt und die menschlichen Bedürfnisse in angemessener Weise erfüllt.”

Wieder fügt der Papst einen Vorbehalt hinzu: „Doch die Ertragskraft ist nicht der einzige Indikator für den Zustand des Unternehmens. Es ist durchaus möglich, dass die wirtschaftliche Bilanz in Ordnung ist, aber zugleich die Menschen, die das kostbarste Vermögen des Unternehmens darstellen, gedemütigt und in ihrer Würde verletzt werden. Das ist nicht nur moralisch unzulässig, sondern muss auf lange Sicht auch negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens haben.”

Johannes Paul II. war kein Anhänger des Neoliberalismus. Für ihn waren Märkte und Gewinne keine Lösung für menschliche Probleme, sondern Mechanismen, denen man sich zu moralischen Zwecken bedient. Tatsächlich vergessen wir oftmals, dass sowohl Adam Smith als auch Herbert Spencer sehr ähnlich argumentierten. Beide – die zwei bedeutendsten intellektuellen Befürworter des freien Marktes - waren auch Moralphilosophen.

Ebenso wie für Johannes Paul II. waren der freie Markt und die Gewinne für sie ein Weg, für mehr Menschlichkeit zu sorgen. Manchmal war das naiv, als beispielsweise Spencer hoffte, dass reiche Mitbürger beinahe automatisch zu guten Mitbürgern würden und es natürlich fänden, denjenigen zu helfen, die nicht so erfolgreich waren. Johannes Paul II. war möglicherweise auch naiv, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.

Alles hängt von unserer Auffassung der Natur des Menschen ab. Wenn wir, wie die Katholische Kirche, glauben, dass die Menschen zwar mit der Erbsünde behaftet, aber vervollkommnungsfähig sind, dass Menschen zwischen Gut und Böse unterscheiden und sich aufgrund ihres freien Willens für einen Weg entscheiden können, dann ist die Bejahung des freien Marktes verständlich und nicht naiv. Mit dieser einen Enzyklika transferierte Johannes Paul II. die Lehre der Kirche aus dem Mittelalter in die Moderne.

Die vom Papst initiierte Debatte über das Verhältnis zwischen dem freien Markt und moralischen Problemen bleibt ungelöst. Die Fragen, wie man die mit dem Kapitalismus verbundenen Auswüchse eliminiert und aus dem Kapitalismus Vorteile für die Gesellschaft und die menschliche Moral zieht, müssen noch erörtert werden. Johannes Paul II. hatte den Mut, elementare Fragen aufs Tapet zu bringen. Werden wir sie ohne seine Führung und Anleitung weiterhin stellen?

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