Die Verteidigung des Wachstums in Indien

Die Sorge in Indien um die regionale Instabilität in seinen Nachbarstaaten wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Verteidigungsausgaben im kommenden Jahr steigen lassen. Weil jedoch bereits etwa 20% der indischen Staatsausgaben in die Verteidigung fließen, besteht das Risiko, dass die staatlichen Haushaltsdefizite eine nicht zu bewältigende Höhe erreichen könnten und das schwer erkämpfte Wachstum der letzten zehn Jahre gefährden.

Bereits bevor Amerika und seine Alliierten mit der Bombardierung der terroristischen Infrastruktur in Afghanistan begannen, waren die indischen Ausgaben für die Verteidigung schnell gestiegen. Die Regierung hat für das im März 2002 endende Haushaltsjahr 731,4 Milliarden Rupien (15,2 Milliarden US-$) für die Verteidigung vorgesehen; 12 % mehr im Vergleich zum vorangegangen Haushaltsjahr. Bedingt durch diese Situation und das ohnehin zu hohe Haushaltsdefizit stehen Indien schwere Entscheidungen bevor, wenn es seinen Ruf als wirtschaftlicher Reformer behalten will.

Anfang der 90er Jahre löste sich Indien von dem trägen staatlichen System, das Nehru hinterlassen hatte, indem es eine marktfreundliche Politik annahm. Diese Reformen gaben der Wachstumskurve eine neue Richtung. Das durchschnittliche reale BIP-Wachstum erreichte im Verlauf der vergangenen zehn Jahre 6 %, gegenüber weniger als 4 % durchschnittlichem jährlichen Wachstum in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Inflationsrate blieb im Verlaufe der 90er Jahre einstellig und das Wirtschaftswachstum wurde, trotz rasch wachsender Haushaltsdefizite, stabiler.

Der globale Technologieboom trug seinen Teil dazu bei, denn Indien entwickelte seine eigene ``New Economy'', die beträchtlichen Einfluss auf die Struktur der indischen Exporte hatte. Die Zahl der High-Tech-Exporte schnellte von 16 % Jahreswachstum in den Jahren 1995 bis 96 auf 53,5 % in den Jahren 2000 bis 2001 hoch. Und doch war High-Tech, wie in vielen anderen Ländern auch, nicht die Patentlösung. Althergebrachte Engpässe in der Infrastruktur blieben weiter bestehen und behinderten die Expansion der Privatwirtschaft.

Obwohl Reformen die Produktivität im nicht-landwirtschaftlichen Sektor verbesserten und das Wirtschaftswachstum beflügelten, wurden bei der Verbesserung des Lebensstandards der Armen nur geringe Fortschritte erzielt. Mehr als 65 % der indischen Arbeiter verdienen ihren Lebensunterhalt nach wie vor in der Landwirtschaft. Doch mit der Anpassung der Wirtschaft an die Reformen der 90er Jahre, steht weniger Kapital für Regierungsinvestitionen in die Landwirtschaft zur Verfügung. Die Landwirtschaft wurde nicht modernisiert, sondern ist so abhängig wie eh und je von dem unberechenbaren Monsunregen und wurde sogar in der Produktion noch unbeständiger.

Die Vernachlässigung der Landwirtschaft war, in Anbetracht der eiligen Bemühungen der Regierung zu modernisieren, vielleicht zu erwarten. Dass sich die Regierung jedoch zunehmend auf dubiose Haushaltsstrategien verlassen würde war nicht absehbar. Die Haushaltsdefizite sind auf unhaltbare Höhen gestiegen. Die Höhe der Inlandsverschuldung lag in dem Haushaltsjahr, das im März 2001 endete, bei 36,8 % des BIP, verglichen mit 25,7 % des Jahres 1997/98.

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Das gemeinsame Haushaltsdefizit der Zentralregierung und der Regierungen der Bundesstaaten übersteigt mittlerweile 10 % des BIP, in den Augen internationaler Rating-Agenturen ein ausschlaggebendes Risiko. Sowohl Standard als auch Poor's and Moody's haben Indiens Bonität im Ausland herabgestuft indem sie die Aussicht auf langfristige Fremdwährungsverbindlichkeiten von stabil zu negativ, beziehungsweise von positiv zu stabil korrigierten.

Die größte Herausforderung für die Regierung besteht jetzt darin, das Haushaltsdefizit zu verringern, und doch gelingt es ihr bisher nicht einmal, die Einsparungen vorzunehmen, die in vorangegangenen Haushaltsplänen versprochen wurden. Hinzu kommt, dass die Regierung, teilweise wegen der Hürden der indischen Bürokratie, nachweislich nicht in der Lage war, die Privatisierung voranzutreiben (was den Staatseinnahmen zu Gute käme).

Diese Probleme entstehen jedoch nicht allein in Delhi. Tatsächlich hat es die indische Zentralregierung in den letzten Jahren (größtenteils) geschafft, die gesetzten Ziele beim Haushaltsplan zu erreichen. Stattdessen hat sich die Finanzlage der Bundesstaaten wesentlich verschlechtert und stellt eine zunehmende Belastung für den Regierungshaushalt insgesamt dar.

Diese Verschlechterung der Staatsfinanzen ist nicht auf rückläufige Einnahmen zurückzuführen, sondern auf deutliche Erhöhungen bei den Ausgaben (etwa bei Löhnen, Subventionen, Zinsleistungen und Verteidigungsausgaben), die das Wachstum nicht annähernd so ankurbeln, wie es staatliche Investitionsausgaben können. Das zunehmende Haushaltsdefizit hat jedoch zu einem höheren monetären Defizit geführt, was einen stärkeren Inflationsdruck auslöst.

Eine Zeit lang ist die Regierung den Schwierigkeiten ausgewichen, indem sie sich dem verbesserten lokalen Rentenmarkt zuwandte, wodurch die Kreditaufnahme bei der Zentralbank verringert werden konnte. Doch die staatliche Kapitalmarktbeanspruchung schränkt die Möglichkeiten für den privaten Sektor ein, Kredite aufzunehmen. Die Kredite, welche die Regierung am Kapitalmarkt aufnimmt, stiegen im Verhältnis zum Finanzierungsbedarf insgesamt auf 66,5 % im laufenden Haushaltsjahr, verglichen mit 20,6 % im Haushaltsjahr 1991/92.

Wenn Indien das zügigere Wachstum, das es im Laufe der vergangenen zehn Jahre erreicht hat, beibehalten will, muss es seinen Finanzsektor in Ordnung bringen, indem es die Staatsausgaben für den Verbrauch kürzt und die Privatisierung vorantreibt. Es wird jedoch schwieriger werden, finanzielle Umsicht walten zu lassen, weil die nicht-landwirtschaftlichen Wirtschaftssektoren einen Rückgang erfahren und der Außenhandel sowie die Zahlungsbilanz aufgrund der globalen Wirtschaftsflaute schwächer werden.

Bedingt durch diese Abwärtstrends der Konjunktur, verfügen die Banken über reichlich Liquidität, was einen Aufwärtstrend auf dem inländischen Rentenmarkt unterstützt, während der Rückgang der Inlandsnachfrage den Bedarf an Bankkrediten verringert (siehe Schaubild unten). In einer Zeit des Konjunkturabschwungs erachten inländische Banken Staatsanleihen als ein sicheres Plätzchen, um ihr Geld zu parken, für die Regierung wird es damit einfacher, das steigende Haushaltsdefizit zu finanzieren.

Die Regierung kann selbstverständlich mit den momentanen Bedingungen leben, aber warum sollte man nicht eine kühnere und bessere Lösung anvisieren? Das Kernstück der indischen Reformagenda war eine Neuorientierung in Bezug auf die Rolle der Regierung in der Wirtschaft: Die Effektivität sollte durch die Minimierung unnötiger staatlicher Interventionen verbessert werden und so den privaten Sektor in die Lage versetzen, langfristiges wirtschaftliches Wachstum hervorzubringen.

Weil diese Agenda unerfüllt bleibt, ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Indien, dass Jahrzehnt an Reformen lediglich zu konsolidieren. Obwohl die laxe Geld- und Kreditpolitik der letzten Jahre das Wachstum erwiesenermaßen relativ effektiv unterstützt hat, wird umfassendere finanzielle Disziplin gefragt sein, wenn mehr private Investitionen angelockt werden wollen.

Wenn Indien Wachstumsraten - von, sagen wir, 7 % bis 8 % - erreichen will, welche die Lebensbedingungen seiner Armen ansatzweise verbessern können, ist eine schnelle Liberalisierung von ebenso großer Bedeutung. Nur Wachstum in dieser Höhe kann der Regierung das Geld zur Verfügung stellen, das sie braucht, um die Ausgaben für Ausbildung und Gesundheit parallel zu den Verteidigungsausgaben zu erhöhen; und nur Investitionen in Humankapital können das langfristige Wachstum, nach dem Indien sich sehnt, auf Dauer aufrechterhalten.

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