Ein Berliner Konsens?

HONGKONG – Vor kurzem hat mich eine Reise nach Berlin an einen früheren Besuch dort im Sommer 1967 erinnert, als ich ein armer Student war und die Mauer bestaunte, die eine ganze Gesellschaft für zwei weitere Jahrzehnte teilen und verwüsten würde. Heute ist Berlin wieder lebendig und jung, aufgebaut durch die harte Arbeit und die Bereitschaft der Deutschen, für die Wiedervereinigung des Landes Opfer zu bringen. Ein passender Ort für die Konferenz des Institute for New Economic Thinking (INET), die ich dort besuchte.

Das Thema der Konferenz war „Paradigm Lost“. Mehr als 300 Ökonomen, politische Wissenschaftler, Systemanalytiker und Ökologen suchten nach neuen theoretischen Ansätzen für Wirtschaft und Politik, die den Herausforderungen und Ungewissheiten, verursacht durch steigende Ungleichheit, wachsende  Arbeitslosigkeit, die globale Finanzkrise und den Klimawandel, Rechnung tragen. Fast alle waren sich einig, dass das alte Paradigma der neoklassischen Ökonomie keine Gültigkeit mehr besäße. Auf einen Ersatz konnte man sich allerdings nicht einigen.

Nobelpreisträger Amartya Sen führte die europäische Krise auf ein vierfaches Versagen zurück: politisch, wirtschaftlich, sozial und intellektuell. Die globale Finanzkrise, die 2007 als US-Subprime-Krise begann und sich zu einer europäischen Staatsschuldenkrise (und Bankenkrise) ausweitete, hat Fragen aufgeworfen, die wir aufgrund von Überspezialisierung und Wissensfragmentierung nicht beantworten können. Und doch können wir nicht leugnen, dass die Welt für eine einfache, übergreifende Theorie zur Erklärung anspruchsvoller wirtschaftlicher, technischer, demographischer und ökologischer Veränderungen zu komplex geworden ist.

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