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Die Geopolitik der afrikanischen Schuldenkrise

WASHINGTON, DC – In den Vereinigten Staaten leben etwa 330 Millionen Menschen, während alle Nato-Staaten zusammen rund 975 Millionen Einwohner haben. Zählt man die wichtigsten asiatisch-pazifischen Partnerländer der Nato - also Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland - hinzu, so ergibt sich eine Gesamtbevölkerungszahl von 1,3 Milliarden. Im Gegensatz dazu leben in Russland und China zusammen etwa 1,6 Milliarden Menschen. Die übrigen Teile der Welt, darunter Indien sowie große Teile Asiens, Afrikas, des Nahen Ostens und Lateinamerikas kommen auf 5,3 Milliarden Menschen.

Obwohl weniger als 15 Prozent der Weltbevölkerung in Nato-Staaten leben, erwirtschaften diese etwa 31 Prozent des weltweiten BIP. Allerdings wird der Anteil der übrigen Regionen an der Weltwirtschaft im Laufe der Zeit voraussichtlich zunehmen, und ihre geopolitische Loyalität sollte nicht als selbstverständlich betrachtet werden.

Vor allem Afrika wird im kommenden Jahrhundert voraussichtlich einen bedeutenden Beitrag zum weltweiten Wachstum leisten. Zunächst gilt es für den Kontinent allerdings mehrere gewaltige Herausforderungen zu bewältigen. Obwohl die Bevölkerungszahl von den heutigen 1,4 Milliarden bis 2075 auf 3,3 Milliarden anwachsen soll, gestaltet sich das Wirtschaftswachstum schleppend und viele afrikanische Länder stecken derzeit in Schuldenkrisen oder weisen ein hohes Risiko für eine derartige Entwicklung auf. Ohne robustes Wirtschaftswachstum wird wohl der Migrationsdruck steigen, wodurch sich die politische Instabilität verstärken und Staatsversagen an der Tagesordnung stehen würde.

Gelingt es den afrikanischen Ländern hingegen, die derzeitigen Herausforderungen zu bewältigen, könnte ihre wachsende geopolitische Bedeutung eine erhebliche Bedrohung für westliche Interessen darstellen, insbesondere da China und Russland ihre wirtschaftliche Präsenz auf dem Kontinent ausweiten.

Natürlich präsentieren sich die Herausforderungen von Land zu Land unterschiedlich. In Nigeria, der größten Volkswirtschaft und dem bevölkerungsreichsten Land Afrikas, liegt die Armutsquote trotz riesiger Ölreserven bei 38,9 Prozent. Nach der zweiten Währungsabwertung innerhalb von acht Monaten und angesichts einer Inflation, die im Februar 31,7 Prozent erreichte, hat eine Lebenskostenkrise viele multinationale Konzerne veranlasst, sich aus dem Land zurückzuziehen.

Südafrika wiederum leidet weiterhin unter einer akuten Energiekrise mit ständigen landesweiten Stromausfällen. Die Arbeitslosenquote stieg 2023 auf 34,7 Prozent, während sich das jährliche BIP-Wachstum auf 0,1 Prozent abschwächte.

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Auch in Ägypten hat sich das Wachstum dramatisch eingebremst. Die Inflation liegt bei 36 Prozent und das mitten in einer andauernden Devisenkrise, die durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza und den darauf folgenden Rückgang der Einnahmen aus dem Suez-Kanal noch verschärft wird. Ein jüngst mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbarter Darlehensvertrag im Ausmaß von 8 Milliarden Dollar sowie ein Investitionsabkommen mit Saudi-Arabien in der Höhe von 35 Milliarden Dollar könnten zur Stabilisierung der ägyptischen Wirtschaft beitragen. Doch vor dem Hintergrund eines jährlichen Bevölkerungswachstums von 1,4 Prozent wird die für 2024 prognostizierte Wachstumsrate von 2,8 Prozent – selbst wenn sie tatsächlich erreicht wird – nicht ausreichen, um die aktuell bei 60 Prozent liegende Armutsquote zu senken.  

Unterdessen bestehen keine Anzeichen für ein Abflauen der Schuldenkrise in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Im Dezember wurde Äthiopien als drittes afrikanisches Land seit 2020 zahlungsunfähig. Sambia, das vor über drei Jahren in den Staatsbankrott schlitterte, erreichte erst vor Kurzem eine Restrukturierungsvereinbarung mit privaten Anleiheinhabern, nachdem man im Juni 2023 eine Vereinbarung mit offiziellen Gläubigern getroffen hatte.

Ghana, das im Dezember 2022 aufgrund steigender Inflation und einer rapiden Abwertung seiner Währung mit seinen Auslandsschulden in Verzug geriet, muss sich mit seinen privaten Anleihegläubigern erst noch auf eine ähnliche Vereinbarung einigen, nachdem der IWF einen geplanten Umstrukturierungsplan abgelehnt hatte. In Simbabwe hat man mit einer durch untragbare Staatsausgaben verursachten galoppierenden Inflation zu kämpfen. Das Land hat vor kurzem seine dritte Währung innerhalb eines Jahrzehnts eingeführt und bemüht sich nun um ein IWF-Darlehen.

Afrikas anhaltende Schuldenkrise wird von mehreren Faktoren befeuert: eine nicht tragfähige Verschuldung aufgrund bestehender fiskalischer Schwachstellen, die Aufnahme von Krediten für ungerechtfertigte und potenziell unüberlegte Infrastrukturinvestitionen, eine das Wirtschaftswachstum behindernde übermäßige Regulierung und politischer Druck zur Erhöhung der Sozialleistungen.

Verschärft werden diese Probleme noch durch eine zunehmende Zahl an Bürgerkriegen. Äthiopien beispielsweise verzeichnete über ein Jahrzehnt rasantes Wachstum, bevor im Jahr 2020 ein Bürgerkrieg ausbrach, der das Land zwang, beim IWF Unterstützung zu beantragen. In ähnlicher Weise hat der anhaltende Bürgerkrieg im Sudan zu massiver Migration und Warnungen vor einer bevorstehenden Hungersnot geführt.

Um die Schuldenkrise zu entschärfen und die Einfuhr lebenswichtiger Güter wieder in Gang zu bringen, gilt es auf politischer Ebene, gezielte Reformen durchzuführen, unterstützt durch strategische Umschuldungen und kurzfristige Finanzierungen. Andernfalls wird es mit den exzessiven Staatsausgaben so weitergehen, und die wirtschaftlichen Aussichten werden düster bleiben.

Doch das von afrikanischen Ländern derzeit benötigte Maß an Ressourcen und Aufmerksamkeit übersteigt bei weitem die Möglichkeiten des IWF und anderer internationaler Institutionen, und die wachsende Unzufriedenheit über den mangelnden wirtschaftlichen Fortschritt des Kontinents verschärft die politische Instabilität. Es ist bezeichnend, dass es in Afrika zwischen 1950 und August 2023 mindestens 106 erfolgreiche Staatsstreiche gab, wobei sich sieben – im Tschad, Sudan, Mali, Guinea, Burkina Faso, Gabun und Niger – seit 2021 ereignet haben.

Verstärkte geopolitische Spannungen, insbesondere die eskalierende Rivalität zwischen den USA und China, unterstreichen die dringende Notwendigkeit, die Staatsschuldenkrise in Afrika zu überwinden und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. In der Vergangenheit haben sich die meisten afrikanischen Länder auf die Unterstützung des Westens verlassen, aber diese Beziehung wird zunehmend in Frage gestellt, wie der Militärputsch in Niger 2023 zeigt.

Nach dem Putsch kündigte die neue Junta in Niger zentrale Militärabkommen mit den USA, die für die Verfolgung extremistischer Aktivitäten von entscheidender Bedeutung waren. Russische Streitkräfte marschierten Anfang April in das Land ein, und das brachte Experten zu dem Schluss, dass eine Aufrechterhaltung der US-Militärpräsenz in diesem Land „schwierig, wenn nicht gar unmöglich“ sei.

Wenn es den einkommensschwachen, hoch verschuldeten afrikanischen Ländern nicht gelingt, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen, werden Armut, Hunger und politische Instabilität weiter zunehmen, wodurch die Verlockung durch russische und chinesische Angebote steigt. Die Industrieländer, insbesondere die USA und die Mitglieder der Europäischen Union, sollten den IWF und die Weltbank hinsichtlich der Hilfe für afrikanische Länder und der Umsetzung wachstumsfördernder Reformen unterstützen. Bessere wirtschaftliche und politische Bedingungen in Afrika sind für die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung, die Länder wie China und Russland offenbar umstoßen wollen, von entscheidender Bedeutung.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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