ahuq2_ BRENDAN SMIALOWSKIAFP via Getty Images_supreme court leak BRENDAN SMIALOWSKI/AFP via Getty Images

Amerikas Leak am Supreme Court

CHICAGO – Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte hat ein Insider am Obersten Gerichtshof der USA vorsätzlich den Entwurf eines Gutachtens in einem hochkarätigen Fall durchgestochen, offenbar in der Absicht, entweder die Beratungen des Gerichts oder die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die mutmaßliche Entscheidung zu beeinflussen. Der Inhalt des Entwurfs – der das Grundsatzurteil Roe v. Wade aus dem Jahr 1973, das ein verfassungsmäßiges Recht auf Abtreibung festschreibt, aufheben würde – ist folgenreich und bestürzend. Doch es ist ebenfalls von Bedeutung, wie das Nachrichtenportal Politicoan den Entwurf gelangt ist. Für den Gerichtshof als Institution stehen die Vorzeichen besonders schlecht, wenn es sich bei dem Informanten um einen Richter oder eine Richterin und nicht um einen jungen Rechtsreferendar handeln sollte, und noch besorgniserregender wäre es, wenn es sich bei dem Informanten um einen Konservativen und nicht um einen Liberalen handelt.

Kommentatoren haben eilends begonnen, über die Quelle des Exklusivberichts von Politico zu spekulieren. Da die Gutachtenentwürfe aus dem Gerichtshof stammen und streng gehütet werden, ist es höchst unwahrscheinlich, dass ein Außenstehender zufällig auf eines gestoßen sein könnte. Auch eine Sekretärin oder eine Hilfskraft – langjährige Mitarbeiter, deren Karrieren von ihrer Loyalität gegenüber dem Gerichtshof abhängen – hätte wahrscheinlich keine unbefugte Weitergabe vorgenommen. Das bedeutet, dass höchstwahrscheinlich ein Rechtsreferendar (junge Spitzenjuristen, die zu Beginn ihrer Laufbahn für ein Jahr am Supreme Court tätig sind) oder ein Richter das Dokument durchgestochen oder die Weitergabe ermöglicht hat.

Die Unterscheidung zwischen Gerichtsbediensteten und Richtern ist von Bedeutung, da es keine überzeugenden Mechanismen gibt, mit denen Richter zur Rechenschaft gezogen werden können. Letzten Endes schreibt kein Bundesgesetz direkt die Geheimhaltung von Gutachtenentwürfen vor, so dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit nur als entfernte Möglichkeit in Betracht kommt. Der Verhaltenskodex für Justizbedienstete erwähnt zwar ausdrücklich ein Bundesstrafgesetz, das den Diebstahl von „Wertgegenständen der Vereinigten Staaten“ verbietet. Ob dies jedoch auch für einen Entwurf eines Gutachtens gilt, ist bestenfalls ungeklärt. Eine strafrechtliche Verfolgung wäre ein schwieriges Unterfangen.

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