Warum Musharraf überlebt

Die jüngsten Drohungen der Bush-Administration, Hilfszahlungen in Milliardenhöhe an Pakistan zu stoppen, hat in Regierungskreisen Panik ausgelöst. Und der pakistanische Botschafter in Washington hat davor gewarnt, dass gegen Fluchtburgen von al-Qaeda und Taliban in den Stammesgebieten Pakistans gerichtete US-Militärschläge Pakistan destabilisieren und „möglicherweise [General Pervez Musharraf] stürzen könnten“. Doch wie besorgt sollte die pakistanische Führung angesichts wachsenden Drucks der USA, gegen die militanten Islamisten vorzugehen, wirklich sein?

Tatsächlich ist es ungeachtet gelegentlicher Frustrationen unwahrscheinlich, dass sich die USA gegen einen treuen – und von ihnen abhängigen – Bündnispartner wenden werden, insbesondere einen, dessen Führer ein herzliches persönliches Verhältnis zu Präsident Bush unterhält. Ebenso wenig wird aufgrund des Fehlens einer organisierten Opposition der öffentliche Ärger über Musharrafs proamerikanische Politik sein Regime destabilisieren. Tatsächlich hat der schlaue General und Präsident bisher nicht nur eine Krise nach der anderen überlebt, sondern dabei noch an Macht gewonnen.

Wie schafft er das? Die Antwort liegt in einer fein austarierten, über Jahre perfektionierten Strategie, die die Forderungen der USA und die Interessen der pakistanischen Geheimdienstchefs, Mullahs, Stammensfürsten, korrupten Politiker und einer Vielzahl von Glücksrittern unter einen Hut bringt. Intrigennetze und undurchsichtige Akteure mögen die Einzelheiten verschleiern, doch die Prioritäten sind unmissverständlich.

Erstens gilt es, die amerikanische Ungeduld zu zügeln. Amerika erwartet von Pakistan, dass es in Bezug auf al-Qaeda und Taliban „liefert“. Aber dort will man den Pott nicht in einem Ausguss leeren. Als beispielsweise der amerikanische Vizepräsident Dick Cheney Anfang März in Islamabad anreiste und eine Reduzierung der Hilfszahlungen sowie US-Direktmaßnahmen gegen die militanten Islamisten androhte, hat man seine Botschaft durchaus verstanden. Kurz vor der Landung seines nicht gekennzeichneten Flugzeugs gab Pakistan die Verhaftung von Mullah Obaidullah, dem Stellvertreter des scheinbar nicht zu fassenden Taliban-Führers Mullah Omar, in Quetta bekannt. Auf Obaidullah war eine Belohnung von einer Million Dollar ausgesetzt; er ist das ranghöchste Mitglied der Taliban, das seit November 2001 gefangen genommen wurde.

Die zögerlich ausgeführte Verhaftung Obaidullahs unterstreicht die ungeklärte Beziehung des pakistanischen Militärs zu den Taliban. Trotz bisher mehr als 700 im Kampf gefallener Pakistani möchten viele in Musharrafs Armee sich die Taliban als einen Quasi-Bündnispartner erhalten, der – wenn die Amerikaner Afghanistan eines Tages verlassen – Pakistan die „strategische Tiefe“ gewährleistet, die das Land gegenüber Indien braucht. Zum Leidwesen des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai bleibt Quetta daher ein Zentrum der sein Regime bekämpfenden Taliban.

Ein zweiter Aspekt der Strategie Musharrafs besteht darin, Beziehungen zu den Islamisten aufzubauen, von denen beide Seiten profitieren. Dies ist eine schwierige Angelegenheit. Musharraf kann nicht zulassen, dass die Mullahs zu stark werden. Die Mullahs andererseits betrachten Musharraf als Agenten des großen Satans Amerika und damit als Verräter am Islam.

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Trotzdem ist es Musharrafs Männern gelungen, durch Schmiergeldzahlungen, Erpressung und das Säen interner Zwistigkeiten durch Provokateure die wichtigste islamistische Oppositionspartei Muttahida Majlis-e-Amal (MMA) gekonnt zu zersplittern. Im Gegenzug können offiziell unter Hausarrest stehende Terroristenführer wie Maulana Masood Azhar und Hafiz Saeed weiterhin ungehindert Büros eröffnen, vor Menschenmassen sprechen und den Dschihad predigen.

Ein derartiges Appeasement hat seines Preis. In Islamabad, wo nach einem staatlichen Befehl zum Abriss dutzender illegal errichteter Moscheen und Seminare während der vergangenen zwei Monate Kalaschnikows schwingende Studenten den Staat offen herausforderten, ist dies deutlich zu sehen. Entnervt von den wildäugigen Studenten gab die Regierung zunächst nach, dann auf. In einer dramatischen Wende versprach Musharrafs Minister für religiöse Angelegenheiten, der Sohn des ehemaligen Diktators General Zia ul-Haq, die beschädigten Moscheen wieder aufzubauen, und legte auf einer der Baustellen sogar symbolisch den ersten Stein.

Das dritte Element von Musharrafs Strategie ist positiverer Art: Musharraf weiß, dass er Gutes tun muss – und dies öffentlich. Dies ist grundlegend für sein Image als neu auf den Plan getretener Weltenlenker, der in einem Ozean des Extremismus einen moderaten Islam verspricht.

Musharraf kann einige bedeutende Leistungen vorweisen. Die Beziehungen zu Indien haben sich verbessert, der von Pakistan unterstützte Aufstand in Kaschmir wurde zurückgeschraubt, ein Gesetz zum Schutze der Frauen gegen starken islamistischen Widerstand verabschiedet und ein virulenter Lehrplan für die öffentlichen Schulen, der Dschihad und Märtyrertum in den Vordergrund stellte, abgeschwächt.

Aber Männer, die mit der Waffe leben, sind auch bereit, durch die Waffe umzukommen, und Musharraf geht keine Risiken ein. Er weiß, die wahre Bedrohung für seine Macht – und sein Leben – geht von seiner eigenen Ecke aus: dem Militär. Daher ist er davon besessen, noch kleinste Details selbst zu bestimmen: Von Truppenbewegungen und Sonderveranstaltungen bis hin zu Abkommandierungen und Beförderungen bedarf alles seiner persönlichen Zustimmung. Einstmals favorisierte islamistische Hardliner sind heute unten durch, und gegen der Meuterei beschuldigte Soldaten wurde die Todesstrafe verhängt.

Obgleich dies – bei Offizieren wie Unteroffizieren – die Kluft pro und anti USA innerhalb der Armee weiter verschärft hat, geht Musharraf eindeutig davon aus, dass er auch deutlich nach den Wahlen im Oktober noch im Amt sein wird und dass auch seine Amtszeit als Oberbefehlshaber der Streitkräfte weiter verlängert werden wird. Alles, was diesem Ziel dient, wird getan; Prinzipien und Regeln sind elastisch.

Man hätte erwarten können, dass die Amerikaner gescheiter wären, als alles auf einen Mann zu setzen, der von einem Tag auf den anderen nicht mehr da sein könnte. Aber die USA scheinen – abgesehen davon, dass sie Dollars ins Land pumpen und Musharraf und sein Militär unterstützen – nicht den Hauch einer Ahnung zu haben, wie sie mit Pakistan und seinen Problemen im Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung umgehen sollen. Und da der Sieg über al-Qaeda und die Taliban Amerikas einzig sichtbares Ziel ist, kann es nicht überraschen, dass die USA unter den Pakistanis weiterhin enorm unbeliebt sind – was Musharraf dazu zwingt, seinen gefährlichen Balanceakt weiter fortzuführen.

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